Der Blätterteig und das Chaos

Christoph Pöppe

Man nehme ein Stück Teig, rolle es mit dem Wellholz auf die doppelte Länge aus, schneide es dann in zwei Teile und lege diese übereinander, so dass wieder ein Stück Teig mit der ursprünglichen Länge und Dicke entsteht. Allerdings war der Teig anfangs beiderseits mit einer dünnen Schicht Fett („Ziehfett“) bedeckt. Zwischen den aufeinandergelegten Teigschichten halber Dicke befindet sich damit eine Fettschicht.

Man wiederhole die Prozedur aus Ausrollen, Zerschneiden und Aufeinanderlegen (nennen wir sie „Kneten“) nun sehr oft. Dadurch entsteht – bei unveränderter Außengestalt des Teigstücks – eine Vielzahl extrem dünner, fettummantelter Teigschichten. Beim Backen hindert das Fett den Wasserdampf am Austreten, mit dem Effekt, dass der Teig aufgeht und das Endprodukt die vom Feinschmecker so hochgeschätzte blättrige Struktur annimmt.

Nehmen wir an, in dem Ursprungsteig befand sich an der Position x0 eine punktförmige Rosine. Wo ist die Rosine im fertigen Gebäck?

Wer aus der Geschichte einen Krimi machen möchte, darf gerne die Rosine durch ein – punktförmiges – Körnchen eines extrem tödlichen Giftes ersetzen. Der Blätterteig wird vor dem Backen in einzelne Portionen zerteilt, und der Mörder möchte die Giftkapsel so in den Urteig stecken, dass sie am Ende in die letzte Portion gerät. Die pflegt nämlich seine Frau zu vernaschen, bevor sie das ganze Blech in den Verkaufsraum der Bäckerei bringt. Und da der Übeltäter sie auf elegante Weise loswerden will …

Von den köstlichen wie den kriminellen Aspekten der Sache einmal abgesehen: Die scheinbar harmlose Frage nach der Position der Rosine führt mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Abgründe der Chaostheorie!

Drücken wir die Arbeit des Bäckers zunächst mathematisch aus. Dazu führen wir Koordinaten ein, und zwar zweckmäßig so, dass das linke Ende vom Teig die Null ist und das rechte die Eins. Nach einmal Ausrollen reicht der Teig von 0 bis 2, wir haben also jeden Punkt x des Teigs mit 2 multipliziert. Zerschneiden und Aufeinanderlegen läuft darauf hinaus, dass die linke Hälfte vom Teig – wo 2x kleiner ist als 1 – unverändert bleibt und die rechte um 1 nach links verschoben wird. Wo also 2x größer ist als 1, ziehen wir genau diese Eins ab. Insgesamt nehmen wir von dem Wert 2x den ganzzahligen Anteil weg, so dass nur noch eine Zahl zwischen 0 und 1 übrigbleibt.

Das lässt sich in eine knackige Formel fassen. Einmal Kneten entspricht der Anwendung einer Funktion f, nennen wir sie „Blätterteigfunktion“, mit der Formel

f(x) = 2x mod 1 .

Dieses „mod“ sieht auf den ersten Blick etwas merkwürdig aus. Man kennt irgendwie a mod b als „den Rest, der bleibt, wenn man a durch b teilt“, und eigentlich sollen a und b ganze Zahlen sein. Durch 1 teilen ist dasselbe wie nichts tun, also ist es sowieso sinnlos, „mod 1“ überhaupt hinzuschreiben?! Schon recht – wenn es um reelle Zahlen geht, muss man die andere Definition heranziehen: a mod b erhält man, indem man von a so oft b abzieht (oder auch addiert), bis das Ergebnis zwischen 0 und b liegt. „mod 1“ heißt also (für positive Zahlen, und nur sie kommen bei unserem Blätterteig vor): Streiche alles, was vor dem Komma steht, und setze statt dessen eine Null vors Komma.

Nach dieser mathematischen Modellierung läuft die Frage nach dem Schicksal der Rosine auf eine einfache Rechenaufgabe hinaus. Von ihrem Ursprungsort x0 gerät sie durch einen Knetakt nach x1=f(x0), beim nächsten Mal nach x2=f(x1)=f(f(x0)), und so weiter. Wer wissen will, wo die Rosine nach zwanzig Runden landen wird, muss halt zwanzigmal hintereinander die Funktion f anwenden: zunächst auf x0, dann auf das Ergebnis und so weiter (die Funktion f „iterieren“). Kein Problem, schon gar nicht bei einer so einfachen Funktion wie f. Wenn wir die Anfangsposition der Rosine kennen, dann kennen wir sie für alle Zeiten; wir können sie ja ausrechnen.

Aber schauen wir uns jetzt an, was mit zwei Rosinen passiert, die wir dicht nebeneinander in den Teig stecken. Bei jedem Ausrollen verdoppelt sich zunächst ihr Abstand; das macht der Faktor 2 in der Funktion f. Das geht nach bescheidenem Anfang rasant auseinander. Nach nur zehn Runden hat sich ihr Abstand ungefähr vertausendfacht (mit dem Faktor 210=1024, um genau zu sein), und noch zehn Runden später ist es bereits das Millionenfache.

Aber so viel Platz ist doch gar nicht im Teig?! Stimmt. Deswegen kommt es irgendwann unweigerlich zu der Situation, dass die eine Rosine in der linken Hälfte landet und ihre Kollegin in der rechten. Durch das Zerschneiden und Aufeinanderlegen geraten die beiden vielleicht sogar näher zusammen als zuvor. Das Entscheidende ist jedoch, dass wir die Kontrolle über den Abstand der Rosinen verloren haben. Ja, wir können jeden Einzelfall nachrechnen. Aber eine allgemeine Aussage der Art „Was zusammen war, bleibt – ungefähr – zusammen“ ist nicht möglich. Selbst wenn wir den Standort der einen Rosine kennen, kann die andere immer noch sonstwo sein.

Das heißt aber auch: Wenn wir die Anfangsposition unserer Rosine nur ungefähr kennen – also gar nicht sagen können, ob sie von den Rosinen des letzten Beispiels auf dem Platz der linken, der rechten oder irgendwo dazwischen gesessen hat –, dann wissen wir nach einer geringen Anzahl von Knetakten praktisch gar nichts mehr über ihren Verbleib. Ein kleiner Unterschied in den Anfangsbedingungen macht einen Riesenunterschied im Ergebnis.

Das ist genau das, was die Rede von dem berühmten „Schmetterlingseffekt“ ausdrücken will. Der Flügelschlag eines Schmetterlings im brasilianischen Regenwald verursacht einen Hurrikan in Texas – oder verhindert ihn. Offiziell heißt das Phänomen „sensitive Abhängigkeit von den Anfangsdaten“; und das wiederum ist eine wesentliche Eigenschaft eines chaotischen Systems.

Aber Vorsicht! Dass sich die Ungenauigkeit mit jedem Schritt verdoppelt: Das allein ist es nicht, was Chaos ausmacht. Machen wir in Gedanken einen Blätterteig aus einem einzigen Blatt. Wir rollen also unseren Teig immer wieder aus, legen aber nie die rechte Hälfte auf die linke. So verdoppelt er bei jedem Schritt seine Länge. Treiben wir die Absurdität noch etwas weiter und verwenden dieses Verfahren, um unsere Rosine zum Mond zu befördern. Abgesehen davon, dass das technisch unmöglich ist, würde sich der Arbeitsaufwand in Grenzen halten. Wenn unser Teigstück zu Beginn 30 Zentimeter lang ist, dann überspannt es nach nur dreißigmal Ausrollen reichlich 109 mal 0,3 Meter, das sind 300000 Kilometer. Damit kommt man unter günstigen Bedingungen gerade so zum Mond, und mit nur einem weiteren Mal Ausrollen schafft man es locker.

So ganz genau können wir unsere Rosine nicht in den Teig stecken; aber eine Abweichung von höchstens einem hundertstel Millimeter (10–5 m) kriegen wir mit einer guten Lupe hin, wenn wir uns etwas Mühe geben. Bei der Ankunft auf dem Mond macht das eine Ungenauigkeit von zehn Kilometer (104 m). Da würde kein Mensch von Chaos reden; vielmehr würde man die Präzision des Apparats bewundern. Der relative Fehler, gemessen an der Gesamtgröße des Objekts, ist ja auch gleich geblieben.

Zum Chaos gehört also nicht nur das Multiplizieren mit 2, das auf die Dauer alle Unterschiede ins Gigantische anwachsen lässt, sondern auch das Zurücklegen des Teigs. Dadurch bleibt nämlich die Gesamtgröße des Systems konstant, und der relative Fehler wächst ins Unermessliche. Einerlei wie genau wir die Anfangsbedingungen festgelegt haben, wir können nach relativ kurzer Zeit über den Systemzustand praktisch gar nichts mehr sagen.

Einen besseren Einblick in die Sache gewinnt man, indem man sich die Brille des Informatikers aufsetzt, sprich das computerübliche Zahlensystem zur Basis 2 (Binärsystem) verwendet. Die Position unserer Rosine ist eine reelle Zahl zwischen 0 und 1; das ist im Binärsystem auszudrücken als Null Komma und dann eine unendliche Folge von Nullen und Einsen. (Im Prinzip nicht anders als in unserem üblichen Dezimalsystem: vor dem Komma eine Null und dahinter eine unendliche Ziffernfolge.)

Multiplizieren mit 2 (Teig ausrollen) heißt das Komma eine Stelle nach rechts verschieben oder, was auf dasselbe hinausläuft, die ganze unendliche Ziffernschlange eine Stelle nach links rücken. Dann kommt die Aktion „modulo 1“ (Teig zerschneiden und zusammenlegen); die ersetzt die eine Ziffer vorm Komma – sei sie 0 oder 1 – durch eine Null. Im Endeffekt tut also die Blätterteigfunktion nichts weiter, als der unendlich langen Ziffernschlange das erste Glied abzuhacken.

Das ist nicht wirklich tragisch – die Schlange ist ja hinterher so unendlich lang wie zuvor. Aber: Wenn wir die Anfangsposition der Rosine nur ungefähr kennen, sagen wir auf 53 Binärstellen genau (das entspricht ungefähr 16 Dezimalstellen und ist die Genauigkeit, mit der die Computer zu rechnen pflegen), dann ist unsere Kenntnis nach nur 53 Knetakten völlig erschöpft. Von der Information, die wir in das System hineinstecken, frisst jede Anwendung der Blätterteigfunktion eine Binärstelle oder kurz ein Bit, die Einheit der Information.

Wir können das Verhalten des Systems für alle Zeiten vorhersagen – wenn wir über unendlich viel Information über seinen Anfangszustand verfügen. Also theoretisch ja, praktisch nie …

Es kommt noch merkwürdiger. Vielleicht erinnern Sie sich daran, wie die Dezimalzahlen im Schulunterricht eingeführt wurden. Wie schreibt man einen Bruch als Dezimalzahl? Es stellt sich heraus, dass die Dezimaldarstellung jedes Bruchs irgendwann periodisch wird, also dieselbe Ziffernfolge unendlich oft wiederholt. (Das schließt den Sonderfall der abbrechenden Dezimalbrüche ein, die nach einer Weile nur noch aus Nullen bestehen.) Rationale Zahlen sind periodische Dezimalbrüche – möglicherweise mit endlich vielen Ziffern davor, die nicht in die Periode passen –; und die überwältigende Mehrheit aller Zahlen ist irrational, das heißt, die Folge ihrer Dezimalziffern wird nie periodisch.

Das ist im Binärsystem nicht prinzipiell anders. Rationale Zahlen sind periodische Binärbrüche. Das heißt, nachdem die Vorperiode erledigt ist, erzeugt die Blätterteigfunktion durch fortgesetztes Abhacken immer wieder dieselben Zahlen. Setzen wir also unsere Rosine auf eine rationale Zahl, dann taucht sie periodisch immer wieder an denselben Stellen auf:

1/7, 2/7, 4/7, 8/7 mod 1 = 1/7, 2/7, 4/7, …

1/5, 2/5, 4/5, 8/5 mod 1 = 3/5, 6/5 mod 1 = 1/5, 2/5, …

Mit etwas mehr Mühe finden wir sogar zu einer vorgegebenen Periode eine Zahl, die diese Periode hat. Das ist doch immerhin eine gewisse Vorhersagbarkeit.

Nur: Wir wissen ja auch, dass rationale und irrationale Zahlen aufs Innigste miteinander vermischt sind. In beliebiger Nähe einer rationalen Zahl liegt stets eine irrationale und umgekehrt. Das heißt, die Inseln der Ordnung in unserem Blätterteigsystem, die rationalen Anfangswerte, sind absolut winzig – punktförmig. Und gleich nebenan schwappt der große Ozean des Chaos.

Spätestens an dieser Stelle wendet sich ein aufrechter Physiker mit Grausen. In einem physikalischen System soll es einen Unterschied machen, ob sein Anfangszustand durch eine rationale oder durch eine irrationale Zahl beschrieben wird? Was für ein Unfug! Und überhaupt: „Dieses Blätterteigsystem ist in höchstem Maße unphysikalisch“, sagt der Physiker – da hat er Recht –, „also sagt es uns nichts über die Natur.“ Und damit liegt er falsch. Aber das ist eine neue Geschichte; die kommt im nächsten Blogbeitrag.

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