Laplace, die Karnickel und das Chaos

Christoph Pöppe

Das Schicksal des Universums ist vorherbestimmt („determiniert“), im Großen wie im Kleinen. Aus dem gegenwärtigen Zustand der Welt folgt nach Maßgabe der Naturgesetze zwangsläufig und ohne irgendwelche Freiheit jeder zukünftige Zustand derselben. Das ist die philosophische Position des Determinismus. Sie wird seit Jahrhunderten heftig diskutiert, weil sie zu weitreichenden Folgerungen Anlass gibt, darunter vor allem Ohnmachts- und Allmachtsfantasien.

Die Ohnmachtsfantasie: Das, was ich als meine persönliche Freiheit erlebe, ist nichts weiter als eine Illusion. Dass ich mich „frei“, von keinem Naturgesetz gezwungen, für eine von zwei Alternativen entscheide und dass diese Entscheidung für die Zukunft der Welt einen Unterschied macht, kann nicht sein. Es gibt keine ursachenlosen Ursachen.

Die Allmachtsfantasie: Wer die Naturgesetze kennt und die Anfangsbedingungen beherrscht, beherrscht die Zukunft. Klassischer Ausdruck ist ein vielzitierter Spruch des Mathematikers und Physikers Pierre-Simon Laplace (1749–1827):

Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Universums als Folge eines früheren Zustandes ansehen und als Ursache des Zustandes, der danach kommt. Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen.

Die fiktive allwissende Intelligenz, von der Laplace spricht, ist als „Laplace’scher Dämon“ in die Literatur eingegangen.

Etwas weniger bombastisch und mit deutlich bescheidenerem Anspruch ist das die Philosophie jedes Menschen, der eine Maschine oder einen chemischen Reaktor baut. Der Determinismus gilt nicht nur für das Universum im Ganzen, sondern für jedes abgeschlossene, sprich gegen Einflüsse seiner Umwelt isolierte physikalische System. Ich kann mir also ein Kleinuniversum schaffen, in dem ich selbst die geltenden Naturgesetze und den Anfangszustand bestimme. Dann lasse ich das System laufen, und es tut genau das, was ich vorher bestimmt habe.

Im letzten Blogbeitrag habe ich Ihnen ein solches abgeschlossenes System vorgestellt. Es handelt sich um ein extrem kleines Universum: nur die reellen Zahlen zwischen 0 und 1, und ein extrem einfaches Naturgesetz: Was jetzt an der Position x steht, befindet sich im nächsten Zeitpunkt an der Position

f(x) = 2x mod 1 .

Zur Veranschaulichung stelle man sich eine punktförmige Rosine vor, die an der Position x in einem Blätterteig der Länge 1 steckt, und die Wirkung des Naturgesetzes von einem Zeitpunkt zum nächsten besteht darin, dass man den Teig auf die doppelte Länge ausrollt, in der Mitte entzweischneidet und die rechte Hälfte auf die linke legt.

Während der Laplace’sche Dämon im Original über geradezu unermessliche Geisteskräfte verfügen müsste, sind in unserem Mini-Universum die Anforderungen an seine Intelligenz durchaus überschaubar. Es geht darum, immer wieder die Funktion f anzuwenden, und das schafft auch ein Taschenrechner – mühelos.

Nur stellt sich heraus, dass der Dämon schon nach relativ wenigen Zeitschritten keine Ahnung mehr hat, was passiert. Kleine Ungenauigkeiten in den Anfangswerten wachsen zu Unsicherheiten heran, die das ganze Universum umfassen, es besteht nämlich die berüchtigte „empfindliche Abhängigkeit von den Anfangsdaten“, und alsbald herrscht das schiere Chaos. Da jeder Zeitschritt ein bisschen – ein Bit, um genau zu sein – von der ursprünglich verfügbaren Information wegfrisst, könnte der Dämon diesen Verfall des Wissens nur bewältigen, indem er totale Kenntnis von den Anfangsdaten hätte. Das wäre in diesem Fall unendlich viel Information.

Wenn unser Dämon aber schon an einem derart einfachen Universum scheitert, dann ist er mit dem echten Universum hoffnungslos überfordert. Mit anderen Worten, es kann ihn auch theoretisch nicht geben. Die Zukunft ist nicht vorhersagbar (außer in einfachen Spezialfällen natürlich), und die These des Determinismus ist zumindest angekratzt.

An dieser Stelle kommt der Physiker mit einem gewichtigen Einwand: „Dein Universum ist von der Realität so weit entfernt, dass man von seinen Eigenschaften nicht auf die des großen Universums schließen kann. Vor allem ist dein Naturgesetz unstetig: Die Iterationsfunktion f ist nicht in einem Stück zu zeichnen, sondern unterbrochen (Bild links). Zwei Punkte, die sich dicht beieinander links und rechts von der Stelle 1/2 befinden (da, wo der Teig geschnitten wird), landen an entgegengesetzten Enden des Universums. Kein Wunder, dass Chaos ausbricht. Aber echte Naturgesetze sind stetig. Natura non facit saltus: Die Natur macht keine Sprünge.“

Der Einwand ist vollkommen berechtigt. Aber ihm ist leicht abzuhelfen. Man schneidet den Teig nicht entzwei, sondern klappt die rechte Hälfte auf die linke; so machen es die Bäcker sowieso. Und schon ist die Iterationsfunktion stetig (Bild Mitte). Nur das Chaos ist genauso aktiv wie zuvor. Es ist alles nur etwas mühsamer nachzurechnen.

„Na schön“, sagt der Physiker, „aber echte Naturgesetze sind nicht nur stetig, sondern auch differenzierbar. Das heißt, die Kurve der Iterationsfunktion darf auch keinen Knick haben, sondern man muss überall eine Tangente anlegen können.“

Na gut, dann ersetze ich halt den geraden Anstieg zum Gipfel mitsamt dem geraden Abfall durch eine schön gerundete Kurve, sagen wir

f(x)=kx (1–x)

mit einem Parameter k, über den ich noch verfügen kann (Bild rechts). Diesmal muss man schon erheblich mehr theoretische Arbeit leisten, aber das Ergebnis ist im Wesentlichen dasselbe wie zuvor. Hier kommt es nicht so sehr auf den Anfangswert von x an, sondern auf den Wert von k. Abhängig von diesem Wert gibt es periodische Lösungen mit beliebiger Periode, die periodischen und die chaotischen Lösungen sind so dicht ineinander vermischt wie die rationalen und die irrationalen Zahlen, und für k=4 herrscht das reine Chaos. Für weitere Einzelheiten empfehle ich das (englischsprachige) Video „This equation will change how you see the world (the logistic map)“.

Ausgerechnet an dieser Iterationsgleichung ist sehr viel geforscht worden, und zu allem Überfluss stellt sich heraus: Auf deren genaue Form kommt es noch nicht einmal an. Es genügt, wenn die Iterationsfunktion schön differenzierbar ist und unterwegs nur ein einziges Maximum hat; dann stellt das komplette Chaosmuster sich ein.

Da bringt der Physiker seinen dritten und gewichtigsten Einwand. „Deine Universen, deren Zustand immer nur von einem Zeitpunkt zum nächsten hüpft, und keiner weiß, was zwischendurch passiert, die sind doch vollkommen unnatürlich! Im echten Universum verläuft die Zeit nicht wie ein tickendes Uhrwerk, sondern kontinuierlich.“

Wieder hat der Physiker völlig Recht – und wieder läuft sein Einwand ins Leere. Ja, kontinuierliche und diskrete Systeme sind eigentlich sehr verschiedene Dinge. Die einen arbeiten mit Differenzialgleichungen, die anderen, von denen hier die Rede ist, mit iterierten Funktionen. Aber die Chaostheoretiker haben Wege gefunden, ein System der einen Sorte mit einem der anderen Sorte in Beziehung zu setzen, und zwar so eng, dass das Chaos sich vom einen auf das andere überträgt.

Ja, es gibt Chaos im Universum, und das macht nicht nur dem Laplace’schen Dämon zu schaffen, sondern auch seinen irdischen Kollegen, die das Wetter für mehr als ein paar Wochen oder die Bewegungen der Planeten für mehr als ein paar Millionen Jahre vorausberechnen wollen.

Den Allmachtsfantasien verpasst also die Existenz des Chaos einen gehörigen Dämpfer. Hilft sie denn auch gegen die Ohnmachtsfantasien? Nicht wirklich. Niemand wird je errechnen können, was in meinem Kopf vorgeht, bevor ich zu einer Entscheidung komme. Das ist gut zu wissen; aber es bleibt das philosophische Dilemma, dass ich – zum Beispiel durch eine Entscheidung – keine Ursache setzen kann, die nicht ihrerseits eine Ursache hat. Da hilft es nicht, dass niemand, noch nicht einmal Laplaces Dämon, diese Ursachenkette nachverfolgen kann.

Ach so, was war mit den Karnickeln? Die sind das natürliche Beispiel für die Iterationsfunktion f(x)=kx (1–x). Sie vermehren sich, na ja, wie die Karnickel. Gibt es in einem Jahr x von ihnen, dann sind es im nächsten Jahr k x; sinnvolle Werte für die Reproduktionsrate k liegen zwischen 1 und 4. Das einzige, was ihre Anzahl am exponentiellen Wachstum hindert, ist das begrenzte Nahrungsangebot. Wenn sie in einem Jahr alles kahlfressen, verhungern sie alle im nächsten Jahr.

Wählen wir die Maßeinheit für die Anzahl x der Karnickel so, dass die vom Nahrungsangebot her mögliche Maximalzahl dem Wert 1 entspricht. Dann dämpft die Nahrungsknappheit die Anzahl der Nachkommen proportional zu 1–x: Je näher x an den gefährlichen Wert 1 heranrückt, desto stärker wird die Karnickelherde im nächsten Jahr dezimiert. So kommt die Iterationsfunktion f(x)=kx (1–x) zu Stande. Und in der Tat kann man in den Schwankungen der Populationszahlen mancher vermehrungsfreudigen Tierart chaotisches Verhalten entdecken.

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