Warum ist die Welt so unchaotisch?

Christoph Pöppe

Im letzten Blogpost habe ich erzählt, wie die Chaostheorie dem Laplace’schen Dämon einige wesentliche Zähne zieht: Das kann schon sein, dass das Schicksal der Welt und das jedes einzelnen Atoms für alle Zukunft vorherbestimmt ist; das nützt allerdings nichts, weil es unmöglich ist, einen zukünftigen Zustand der Welt vorauszuberechnen.

Was heißt unmöglich? Ist die Zukunft der Welt grundsätzlich unberechenbar? Wir wissen, dass die riesengroße Differenzialgleichung, die die Naturgesetze beschreibt, eine eindeutige Lösung hat – vollständige Kenntnis der Anfangsdaten vorausgesetzt –, aber es kann grundsätzlich kein Verfahren geben, diese Lösung zu bestimmen? Oder die Anfangsdaten vollständig zu kennen? Nicht einmal ungefähr? Oder übersteigt die Aufgabe nur die Möglichkeiten jedes vernünftigerweise vorstellbaren Dämons?

Etliche Kommentatoren meines letzten Textes haben ja schon die verschiedensten Vorstellungen über die Fähigkeiten geäußert, mit denen das fiktive Wesen des Herrn Laplace ausgestattet sein könnte. Der Dämon kann irgendwelche Daten nur mit begrenzter Genauigkeit speichern und verarbeiten? Das gilt, wenn er ein – riesengroßer – Computer ist. Die Vorstellung kommt uns Heutigen leicht in den Sinn, vor allem, weil die Leistung echter Computer in der jüngeren Vergangenheit in atemberaubendem Tempo gewachsen ist. Wenn man das in die Zukunft extrapoliert, dann hätten wir in, sagen wir, 50 Jahren schon einen ganz ordentlichen Dämon. Zu allem Überfluss sagt uns die Theorie der Berechenbarkeit, dass jede Maschine, vollkommen unabhängig von ihrer konkreten Bauweise, nicht mehr können wird als das, was die Informatiker einen universellen Computer nennen. Und der käme über die endliche Genauigkeit nicht hinaus.

Aber man kann ja von digital zu analog übergehen, wie der Kommentator “lion in oil” vorgeschlagen hat. Wenn man den Abstand zweier Atome mit unendlicher Genauigkeit haben möchte, dann setze man einfach zwei Atome in den genau richtigen Abstand. Mal abgesehen von den technischen Schwierigkeiten, die der Realisierung einer solchen Idee entgegenstehen: Unser Dämon braucht für die Darstellung der Wirklichkeit mindestens so viele Atome, wie die Wirklichkeit selbst enthält. Das zu Ende gedacht bedeutet: Um über die Zukunft der Welt eine Prognose abzugeben, baut der Dämon eine absolut getreue Kopie der Welt und lässt die “ablaufen”, das heißt, er lässt auf die Kopie dieselben Naturgesetze wirken, die auch im Original gültig sind. Leider geht das nicht schneller als im Original; die Lichtgeschwindigkeit setzt da eine absolute Grenze. Also ist die Prognose für die Zukunft bestenfalls in dem Moment verfügbar, in dem die Zukunft ohnehin eintritt. Wozu dann der ganze Aufwand?

Das Dilemma entspricht der bekannten Tatsache, dass es eine perfekte Landkarte nicht gibt. Eine Landkarte, die die Position jedes Kieselsteins und jedes Grashalms getreulich verzeichnet, wäre überaus unhandlich, denn sie müsste im Maßstab 1:1 sein, und wenn das Papier so groß ist wie die Landschaft, die es abbilden soll … Diesem Einwand wäre vielleicht im Zeitalter von Google Maps abzuhelfen; nur: Die Landkarte wäre auch hoffnungslos unbrauchbar. Sie würde den Betrachter mit so vielen Einzelheiten überfluten, dass er nicht mehr sieht, wie er von A nach B kommt – jedenfalls nicht besser als in der Landschaft selbst.

Der Nutzen einer Landkarte besteht in der Datenreduktion: Sie lässt eine Fülle von Einzelheiten weg, damit der verbleibende Rest unserem beschränkten Verstand zugänglich ist. Dasselbe gilt für Dämonen, echte wie nachgemachte. Unsere irdischen Versuche, die Zukunft zu bestimmen, bleiben nicht nur deshalb im Ungefähren, weil wir es nicht genauer wissen können, sondern auch weil wir es nicht genauer wissen wollen.

Diese Möchtegern-Dämonen funktionieren ja erstaunlich gut – zumindest in unserem Alltag. Wenn ich morgens verschlafen zum Frühstückmachen torkele, dann geht das nur deshalb ohne größere Unfälle ab, weil meine unmittelbare Umgebung ein großes Maß an Vorhersagbarkeit aufweist. Alle Gegenstände stehen noch da, wo ich sie gestern hingestellt habe; Wände und Fenster haben externe Kräfte von Wind und Wetter erfolgreich abgeschirmt. Das Wasser kommt so zuverlässig aus dem Hahn wie der Strom aus der Steckdose; beides nutzend, schalte ich die Kaffeemaschine ein, und schon setzen sich ungefähr 1026 Wassermoleküle, durch die elektrische Energie der Heizspirale getrieben, sehr intensiv in Bewegung.

Was sich dabei im Einzelnen abspielt, ist noch weit chaotischer als das einfache Blätterteigmodell. Wenn zwei Wassermoleküle aufeinander treffen, tauschen sie Energie und Impuls aus; und in welche Richtung die beiden Stoßpartner davonfliegen, hängt entscheidend davon ab, ob sie mittig oder versetzt zusammenprallen. Kleine Unterschiede im Anflug machen einen Riesenunterschied im Abgang, man hat empfindsame Abhängigkeit von den Anfangsdaten, Unvorhersagbarkeit der Bahn des einzelnen Moleküls, das ganze Programm. Der Dämon hätte keine Chance. Wieso ist uns das so herzlich egal?

Weil es uns, um mit den Thermodynamikern zu reden, nicht auf den Mikrozustand ankommt, sondern auf den Makrozustand. Für den Kaffee entscheidend ist nicht die Bewegung des einzelnen Moleküls, sondern nur die Temperatur des ganzen Ensembles. Das aber ist ein gemittelter Wert über die Bewegungsenergie aller Moleküle, und wenn Wärmekonvektion und -diffusion, wie in ordentlichen Kaffeemaschinen üblich, ihre Arbeit gut verrichten, befindet sich das System im Wärmegleichgewicht, das heißt, es hat überall dieselbe Temperatur. Das zuverlässig vorherzusagen, würde einen Dämon nicht überfordern; das schafft sogar der Hersteller der Kaffeemaschine.

Allgemeiner gesprochen: Man bewältigt das Chaos, indem man sich auf Prozesse konzentriert, bei denen die chaotischen Effekte im Kleinen sich im Großen ausmitteln und/oder die einen Gleichgewichtszustand annehmen, unabhängig vom Anfangszustand und irgendwelchen chaotischen Ereignissen unterwegs. Das Wasser in der Kaffeemaschine nimmt eine einheitliche Temperatur an, die Oberfläche des Sees wird – annähernd – eben, ein hinreichend großer Himmelskörper rundet sich unter der Wirkung seiner eigenen Gravitation zur Kugel – ja, die Zeitskalen sind sehr unterschiedlich. Dieser Makrozustand beziehungsweise dieses Gleichgewicht ist vergleichsweise einfach zu berechnen, viel einfacher jedenfalls als der detaillierte Weg, der zu diesem Zustand führt. Dabei helfen allgemeine Prinzipien wie Energie- und Impulserhaltungssatz.

Inzwischen ist die Sonne aufgegangen. Das konnte ich vielleicht nicht direkt beobachten – die Bewegung der Wolken ist ein ziemlich chaotisches Phänomen –, aber das Tageslicht verschafft mir die Gewissheit, dass die Erde sich auch heute so dreht, wie die Astronomen es vorausberechnet und den Kalendermachern die entsprechenden Zeiten minutengenau angeliefert haben.

Diese Berechnungen beherrschte man schon zu Laplacens Zeiten. Und in der Tat war es der spektakuläre Erfolg der Himmelsmechanik, der Laplace veranlasste, seinen Dämon als natürliche Fortsetzung dieses Erfolgs zu ersinnen. Nur: Wie kommt es zu diesem Erfolg? Nicht indem man die Bewegungsgleichungen für jedes Atom auf der Erde löst, sondern indem man so tut, als sei die Erde nichts weiter als ein Massenpunkt oder, wenn es um ihre Eigenrotation geht, ein starrer Körper. Diese Vereinfachung mögen diejenigen, die gerade unter einem Erdbeben oder einer Überschwemmung zu leiden haben, nicht wirklich witzig finden; aber in astronomischen Maßstäben betrachtet kommt sie der Realität äußerst nahe.

Wieder kommt es auf die Zeitskalen an. Die Bewegungsgleichungen für die Massenpunkte, die die Sonne, die Planeten und ihre Monde vertreten, sind durchaus in der Reichweite eines mittelgroßen Dämons – ein heutiger PC genügt vollkommen, um sie zu lösen. Nicht durch eine Formel, wohlgemerkt, aber numerisch, in beliebig guter Näherung. Gleichwohl ist das Sonnensystem chaotisch! Für die nächsten paar Millionen Jahre müssen wir uns noch keine Sorgen machen, aber was danach kommt, ist ebenso wenig zu berechnen wie das Schicksal der Rosine im Blätterteig. Es war übrigens ein fiktives System aus zwei Sonnen, die in einer Ebene einander umkreisen, und einem Planeten, der dazu senkrecht pendelt, mit dem Henri Poincaré (1854–1912) die Grundlagen dessen legte, was heute als „Chaostheorie“ oder korrekter „Theorie dynamischer Systeme“ bezeichnet wird.

Dem Amateur, der sicher sein möchte, dass morgen die Sonne aufgeht, steht ein einfacheres Mittel zur Verfügung: der Drehimpulserhaltungssatz. Damit die Erde nicht mehr so rotiert, wie wir es gewohnt sind, müsste sie von ihrem riesigen Eigendrehimpuls etwas an eine andere Masse abtreten. Und da eine solche Masse weit und breit nicht in Sicht ist …

Das sind zwei wesentliche Möglichkeiten, dem Chaos aus dem Weg zu gehen und die Welt etwas vorhersagbarer zu machen: 1) einen Gleichgewichtszustand herbeiführen und 2) eine große Zahl von Teilchen zu einem einzigen Objekt zusammenfassen, für das dann ein einfacheres, summarisches Naturgesetz gilt. Beide erklären nicht, wieso der Strom und das Wasser so zuverlässig aus der Leitung fließen. In der Tat ist das nicht physikalisch, sondern kulturell zu erklären: Da die Menschen gewisse Bequemlichkeiten schätzen – und die Bewohner reicher Länder sie zu finanzieren in der Lage sind –, unternehmen sie große Anstrengungen, um einen Zustand aufrechtzuerhalten, der fern vom Gleichgewicht ist und überdies erheblichen Wartungsaufwand erfordert. Zu derlei Dingen hat die Chaostheorie wenig bis gar nichts zu sagen.

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