Raj Reddy und die technische Lösung des Lockdown-Problems

Christoph Pöppe

Dabbala Rajagopal “Raj” Reddy hat einen geradezu märchenhaften Aufstieg genommen. Geboren 1937 in einem kleinen Dorf im heutigen indischen Bundesstaat Andhra Pradesh, arbeitete er nach seinem Studium für einige Jahre bei IBM in Australien und war Assistenzprofessor in Stanford. 1969 kam er an die Carnegie Mellon University in Pittsburgh, wo er zehn Jahre später das Robotik-Institut gründete. Aus der Schule für Computer Science, die er von 1991 bis 1999 leitete, gingen zahlreiche Institute hervor: Language Technologies Institute, Human Computer Interaction Institute, Center for Automated Learning and Discovery (heute Machine Learning Department) und Institute for Software Research. Die bahnbrechenden Fortschritte, die er auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz erzielte, trugen ihm 1994, gemeinsam mit Edward Feigenbaum, den “ACM A.M. Turing Award” ein, so etwas wie den Nobelpreis für Informatik. Noch heute ist der 83-Jährige an der Carnegie Mellon University aktiv, das macht mehr als 50 Jahre Professur.

Und bei all dem Weltruhm – der englische Wikipedia-Artikel zählt ein Dutzend hochkarätige Ehrungen auf – hat Reddy nie seine Herkunft vergessen. Im Gegenteil: In mehreren Projekten unternimmt er es, die Unterprivilegierten unter den Erdbewohnern an den Segnungen seiner Wissenschaft teilhaben zu lassen. Wie verschafft man Menschen, die kein Englisch verstehen, vielleicht gar nicht lesen und schreiben können und mit Sicherheit keine Verwendung für eine Tastatur haben, den Zugang zum Internet? Über das Medium gesprochene Sprache. Mit Hilfe der künstlichen Intelligenz lernt ein Computersystem jede unter den zahlreichen Sprachen, die in Indien gängig sind, und zwar, indem es wie der Schiffbrüchige aus dem Roman mit den Einheimischen in den Dialog tritt und sich dadurch allmählich den Wortschatz ebenso wie die Grammatik aneignet. Da es mit sehr vielen Leuten zugleich kommuniziert, geht das sehr schnell. Dieses Projekt hat Reddy vor einigen Jahren auf dem Heidelberg Laureate Forum vorgetragen.

Beim diesjährigen Virtual Heidelberg Laureate Forum greift er ein überaus aktuelles Thema auf: Wie kann man mit Hilfe künstlicher Intelligenz den nächsten drohenden Corona-Lockdown abwenden? Reddys Idee leuchtet unmittelbar ein: Statt vorsichtshalber viel zu viele Leute voneinander zu isolieren – es könnte ja einer ansteckend sein, ohne es zu wissen –, findet man gezielt die Infizierten heraus und beschränkt sich darauf, nur diese aus dem Verkehr zu ziehen.

Die dafür erforderliche Hardware ist im Wesentlichen schon jetzt verfügbar. Es würde genügen, das Fitness-Armband, mit dem die Angehörigen der Industrienationen ihre körperlichen Funktionen aufzeichnen, ein Stück weiterzuentwickeln. Das Armband misst permanent deinen Puls. Über eine Lampe, die ein Stück unter die Haut leuchtet, und einen optischen Sensor bestimmt es die Sauerstoffsättigung in deinem Blut. Ein Thermoelement bemerkt, ob du Fieber hast, ein Mikrofon hört dich husten. Vielleicht pumpt sich das Gerät gelegentlich auf und misst beim Ablassen der Luft deinen Blutdruck. Ein Trägheitssensor zeichnet auf, wie viel du dich bewegst. Und wenn das alles noch kein klares Bild ergibt, fragt dich das Gerät – in deiner Sprache, siehe oben – nach deinem Befinden.

Jeder dieser Messwerte sagt für sich genommen noch nicht viel. Aber wenn dein Gerät ein paar Monate Zeit hatte, dich kennenzulernen, weiß es ziemlich genau, welcher körperliche Zustand für dich normal ist. Das System verarbeitet die Daten vieler Menschen und findet mit der Technik der neuronalen Netze gemeinsame Muster; daraufhin wird das Armband mit so viel künstlicher Intelligenz ausgestattet, dass es merkt, wenn du krank wirst, bevor du selbst es merkst – sagt Reddy.

An dieser Stelle hebe ich skeptisch die Augenbrauen. Ein junger, gesunder Mensch steckt sich mit Corona an, merkt nichts davon, verbreitet das Virus aber weiter – und das Armband soll das merken? Schwer vorstellbar. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass ein neuronales Netz aus einem unübersichtlichen Wust von Daten Informationen zieht, die einem Menschen niemals aufgefallen wären.

Nehmen wir an, das alles würde funktionieren. Dann müsste man allen Ernstes die ganze Erdbevölkerung mit fortentwickelten Fitness-Armbändern ausstatten. Wer soll das bezahlen?

Nicht die Empfänger selbst, sagt Reddy. Das wäre in einem Land wie Indien illusorisch. Vielmehr müssten die reichen Länder das subventionieren. Warum sollten sie das tun? Weil es am Ende für sie ein Geschäft ist.

Nehmen wir an, so ein intelligentes Armband kostet 125 Dollar, was in meinen Augen eher zu hoch geschätzt ist. Immerhin wäre der – gewaltige – Software-Aufwand durch die Zahl der Geräte zu teilen. Setzen wir die Weltbevölkerung mit 8 Milliarden Menschen an, was nur geringfügig überschätzt ist, so kommt man auf die stolze Summe von 1000 Milliarden Dollar, eine volle Billion. So viel hat nicht einmal Bill Gates in der Tasche.

Aber dank der Corona-Pandemie sind wir es ja gewohnt, mit etwas größeren Geldbeträgen zu rechnen. 1000 Milliarden Dollar sind auch nur viermal so viel, wie der deutsche Staat gegenwärtig ausgibt, um die unmittelbaren Folgen abzufangen. Dem deutschen Bruttosozialprodukt von 2020 fehlt im Vergleich zu einem ungestörten Jahr noch deutlich mehr. Reddy beziffert den Aufwand, den die USA zur Milderung der Folgen betreiben müssen, auf 6 Billionen Dollar. Und da leben nur 4 Prozent der Weltbevölkerung. Mit anderen Worten: Wenn schon im Frühjahr dieses Jahres die Geräte zur Verfügung gestanden hätten, die USA hätten jedem Menschen auf der Welt eines geschenkt, und daraufhin wäre die Pandemie ausgeblieben, dann stünden die Amerikaner jetzt um 5 Billionen besser da – reichlich 1600 Dollar pro Person. Und wenn nicht nur sie, sondern alle reichen Länder gemeinsam diese Last schultern – schließlich profitieren sie ja auch alle davon –, dann würde der Gewinn noch deutlich größer ausfallen.

Es versteht sich, dass Donald Trump mit einer derartigen Argumentation nicht zu überzeugen wäre. Aber selbst einem vernünftigen Menschen kommen erhebliche Bauchschmerzen. Kann so etwas funktionieren?

Machen wir einige Annahmen zu Gunsten des Projekts: Die künstliche Intelligenz ist so weit fortgeschritten, dass das Armband eine Infektion mit höchstens einer falsch positiven oder falsch negativen Diagnose auf eine Million erkennt (die Zielvorgabe ist von Reddy selbst). Die Software hat ihre Kinderkrankheiten hinter sich, bevor die acht Milliarden Geräte ausgeliefert werden. Solarzellen auf der Oberfläche des Geräts liefern so viel elektrische Energie, dass man sich um das Aufladen des Akkus keine Gedanken machen muss. Die Dinger sind stoßgesichert und halten Sonne, Salzwasser und sonstige Umwelteinflüsse aus. Dann bleibt immer noch die Frage, warum sich die Leute freiwillig so ein Gerät ums Handgelenk binden sollen.

Immerhin sammelt dein Armband mit der Zeit äußerst detaillierte Kenntnis über deinen Gesundheitszustand an. Und es hat eine Verbindung zum Internet, unvermeidlich, denn das System – wer immer diesen gigantischen Computer betreibt – muss Statistiken führen, um seine hohe Prognosegenauigkeit aufrechtzuerhalten. Diese Daten darf das Armband nur anonymisiert herausrücken. Nicht auszudenken, was passiert, wenn das System gehackt wird und dein Chef oder – in China – der Parteibonze in deinem Dorf Zugriff auf deine Gesundheitsdaten erhält. Anonymisierungen, die das verhindern, sind technisch möglich; die Kryptografie hält etliche erprobte Algorithmen bereit, die nicht eine Rückfrage bei einer allwissenden (und deswegen einbruchsgefährdeten) Zentrale erfordern.

Das übliche Geschäftsmodell – Google verschenkt das Programm und verdient an den eingesammelten Daten – ist hier offensichtlich nicht anwendbar. Vielmehr muss zumindest der Teil der gesamten App, der sich auf den Datenverkehr bezieht, open source, der Nachprüfung für jedermann zugänglich sein. Ich würde mich ja überzeugen lassen, wenn, sagen wir, der Chaos Computer Club die Software für unbedenklich erklärt. Auf wen der Bauer in Indien sich da verlassen soll, ist unklar; aber vielleicht findet sich ein Weg zur Erzeugung von Vertrauen.

Gleichwohl bleibt für den Empfänger des technischen Wunderdings die Frage „Was habe ich davon?“ Antwort: Mein Armband leuchtet grün, solange es mich für gesund befindet, und rot, wenn es mich als krank erkennt (oder wenn es zu der Überzeugung kommt, am falschen Handgelenk zu sitzen). Mit grünem Armband darf ich mich so verhalten, als gäbe es Corona nicht: ohne Maske herumlaufen, unbedenklich Kontakt mit anderen Menschen haben, Veranstaltungen mit Gedränge besuchen, auf Reisen gehen … alles unter der Voraussetzung, dass die Infizierten zuverlässig aus dem Verkehr gezogen werden. Damit hat das Armband gewisse Eigenschaften eines Reisepasses: Ich trage es immer bei mir, es öffnet mir viele Türen, die ansonsten für mich verschlossen wären, aber ich selbst darf nichts hineinschreiben, und eigentlich gehört es mir nicht, selbst wenn ich dafür bezahlt habe („Dieser Reisepass ist Eigentum der Bundesrepublik Deutschland“). Damit das Armband die Gesundheitsgarantie abgeben kann, muss es gegen Manipulationsversuche seines Trägers gesichert sein. Der darf es höchstens zwischendurch zum Duschen abnehmen, und das Armband muss sich vergewissern können, dass es praktisch ununterbrochen am richtigen Handgelenk sitzt.

Und wenn das Gerät anschlägt, was hindert mich, es abzulegen und mich zu der Minderheit zu gesellen, die das Ding aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnt? Wenn es so wenig Anklang findet, dass man allgemein nicht vor jemandem zurückschreckt, der kein grünes oder überhaupt kein Armband trägt? Oder wenn ich mich genötigt sehe, trotz positiven Bescheids Arbeit als Tagelöhner zu suchen? Dagegen würde nur helfen, wenn ein rotes Armband einen Anspruch auf so etwas wie Überbrückungsgeld begründen würde. Auch das ist in einem Entwicklungsland schwer vorstellbar.

Ein technisch überaus faszinierendes Konzept. Aber für seine Realisierung sieht es ziemlich düster aus. Es ist eben klassisches big business: Eine mächtige Zentrale will die ganze Welt beglücken; damit sie das darf, muss im Prinzip die ganze Welt zustimmen, und damit ist nicht zu rechnen. Dagegen ist selbst die Entwicklung eines Impfstoffs, auch wenn sie von multinationalen Konzernen betrieben wird, ein geradezu graswurzelartiges Unterfangen.

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