Linear, nichtlinear, chaotisch …?

Christoph Pöppe

„Nichtlinear“, das ist schon fast ein Modewort geworden. Wenn irgendetwas kompliziert, unkalkulierbar oder im strengen Sinne chaotisch wird, dann muss es ja irgendwie nichtlinear sein. Die Idee ist: Linear ist brav, ordentlich und berechenbar, nichtlinear ist wild, chaotisch und schmetterlingseffektmäßig unvorhersehbar. Gute Mädchen sind linear, nichtlineare kommen überallhin. Das stimmt auch irgendwie – aber dann doch nicht so ganz. Im Folgenden soll es um die komplizierte Beziehung zwischen Nichtlinearität und Chaos gehen.

Ein mittlerweile geflügeltes Wort, dessen Ursprung nicht mehr auszumachen ist, lautet: „Nichtlineare Probleme“ als eine Art Klasse zusammenzufassen ist ungefähr so sinnvoll wie in der Zoologie über „Nicht-Elefanten“ zu reden. In der Tat: Der Zoo der nichtlinearen Probleme ist äußerst vielgestaltig, und ihre einzige Gemeinsamkeit besteht im Fehlen einer Eigenschaft, eben der Linearität. Diese Eigenschaft wiederum ist uns nur deshalb so lieb und wert, weil sie uns beim Lösen der Probleme ungeheuer behilflich ist. Und da man lieber über gelöste Probleme spricht als über ungelöste (und es über die gelösten auch mehr zu erzählen gibt), kann schon der Eindruck entstehen, die Welt sei im Wesentlichen linear. Na ja – jedenfalls soweit man sie überhaupt berechnen oder den Kindern im Physikunterricht zumuten kann.

In der Tat sind erstaunlich viele physikalische Gesetze linear. Das heißt, sie erzählen uns, dass zwei verschiedene Größen zueinander proportional sind. Der Klassiker ist Newtons zweites Gesetz der Mechanik: \(F=ma\), Kraft ist Masse mal Beschleunigung, oder auch: Kraft und Beschleunigung sind proportional zueinander, und den Proportionalitätsfaktor nennen wir Masse.

Das geht munter so weiter. Ohm’sches Gesetz: \(U=RI\), elektrische Spannung und Stromstärke sind proportional, mit dem Widerstand als Faktor. Allgemeine Gasgleichung: \(pV= N k_{\rm B} T \), die Temperatur ist proportional dem Druck oder auch dem Volumen, vorausgesetzt, man hält die jeweils andere der beiden Größen konstant; der Proportionalitätsfaktor ist Teilchenzahl mal Boltzmann-Konstante. Die Maxwell-Gleichungen des Elektromagnetismus sind etwas komplizierter, aber im Vakuum laufen sie darauf hinaus, dass die zeitliche Änderung des elektrischen Feldes proportional einer (ziemlich komplizierten) räumlichen Änderung des magnetischen Feldes ist – und umgekehrt.

Das hat eine bedeutende Folge. Die Lösungen der Maxwell-Gleichungen, die elektromagnetischen Wellen, überlagern sich störungsfrei (Superpositionsprinzip). Mathematisch ausgedrückt: Die Summe zweier Lösungen ist wieder eine Lösung, und wenn man eine Lösung mit einem konstanten Faktor multipliziert, bleibt es eine Lösung. Aus diesem Grund können sehr viele Radio- und Fernsehsender zugleich ihre Signale ausstrahlen, ohne dass sie einander in die Quere kommen. Gleiches gilt für die Lichtwellen, die unsere Augen treffen. Wären die Maxwell-Gleichungen nichtlinear, wäre das mit dem Sehen zumindest sehr schwierig.

In diesem Fall folgt aus der Linearität eines physikalischen Gesetzes unmittelbar eine Eigenschaft des Systems, das diesem Gesetz unterliegt, nämlich das Superpositionsprinzip für elektromagnetische Wellen. Wie ist das in der Mechanik? Immerhin ist Newton II auch linear.

Das ist schon richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Das fundamentale Gesetz der Mechanik sagt zwar, wie der Ort eines Masseteilchens von der Kraft abhängt (nämlich dass die Änderung der Änderung (zweite Ableitung) des Ortes, oder auch kurz Beschleunigung, gleich Kraft durch Masse ist), aber nicht, wie die Kraft vom Ort abhängt. Erst wenn man dieses Kraftgesetz hinzunimmt, hat man eine vollständige Beschreibung der Gesetze des Systems. Die nimmt in der Regel die Form einer Differenzialgleichung an, also einer Gleichung, die die zeitliche Änderung (Ableitung) einer Größe mit der Größe selbst (zum Beispiel dem Ort des Teilchens) in Beziehung setzt. Die Lösung einer solchen Gleichung ist dann eine Funktion, die angibt, wie sich diese Größe (oder ein Ensemble von Größen, zum Beispiel viele Massenpunkte) in Abhängigkeit von der Zeit verhält. Laplacens Dämon ist nichts weiter als ein Lösungsverfahren für Differenzialgleichungen: Aus den physikalischen Gesetzen eines Systems und den Anfangsbedingungen berechnet er dessen Verhalten für alle Zeiten.

Ein mechanisches System ist also erst dann linear, wenn auch das Kraftgesetz linear ist. Und damit sieht es ziemlich mau aus. Die Kraft, die unseren Alltag bestimmt, die Schwerkraft, ist – wieder nach Newton – umgekehrt proportional dem Quadrat des Abstands der beteiligten Massen, also alles andere als linear. Das erklärt, wieso das System aus Sonne und Planeten chaotisch ist. Wieso stört uns das im Alltag nicht? Weil wir in unserem, sagen wir, häuslichen Umfeld die Anziehungskraft der Erde als konstant annehmen dürfen. Das ist noch ordentlicher als linear.

Ein richtig lineares Kraftgesetz kommt in der Mechanik von Natur aus nicht so wirklich vor. Aber die Physiker haben sich eins zurechtgebastelt, weil die linearen Systeme halt so schön sind. Es handelt sich um die Schraubenfeder, ein beliebtes Requisit des Physikunterrichts. Nach dem Hooke’schen Gesetz ist deren Rückstellkraft proportional der Auslenkung. Man hänge sie an ein Stativ und an ihr unteres Ende eine Masse im – konstanten – Schwerefeld. Die zappelt dann mit einer Frequenz, die nicht nur unabhängig von der Amplitude, sondern auch theoretisch aus den Daten berechenbar ist; denn das System ist richtig linear und damit einer erschöpfenden Analyse zugänglich. Man nennt es den „harmonischen Oszillator“, weil es so schöne Sinusschwingungen macht.

Und wenn das mit der Linearität nicht so ganz passt? Dann wird es passend gemacht. Welche Kraft wirkt zwischen zwei Atomen in einem Stickstoff- oder Sauerstoffmolekül? Das auszurechnen ist schon theoretisch eine Herausforderung und praktisch so gut wie unmöglich. Aber offensichtlich haben die beiden Atome einen Lieblingsabstand, und wenn der nicht genau eingehalten wird, dann wirkt eine Rückstellkraft, die sie auf diesen Gleichgewichtszustand hin treibt. Dann tun wir doch wider besseres Wissen einfach so, als säße zwischen den Atomen eine Schraubenfeder. Deren Härte ermitteln wir durch Messen der Schwingungsdauer – und für gewisse Anwendungen reicht das! Klaus Schulten und seine Kollegen berechnen mit dieser wilden Annahme die Dynamik biologischer Moleküle bis hin zu ganzen Proteinen und kommen damit der Realität erstaunlich nahe.

Mit einer derart, sagen wir, kreativen Interpretation der Realität sind Schulten und seine Kollegen nicht allein. Wenn ein „schmutziges“ reales System nur geringfügig von einem „sauberen“, gut berechenbaren, zum Beispiel linearen System abweicht, dann rechnet man mit dem sauberen System, und die Ergebnisse werden mit etwas Glück auf das reale System anwendbar sein – ungefähr.

In der Mechanik findet dieses Prinzip Anwendung zum Beispiel bei schwingenden Saiten oder Membranen. Man nähert die Saite durch ein System aus Massen, die durch lineare Federn aneinander gekoppelt sind, und siehe da: Das angenäherte System schwingt ziemlich genau wie eine echte Saite, mit Grund- und Obertönen. Und dank dem Superpositionsprinzip beeinflussen diese verschiedenen „Schwingungsmoden“ einander nicht. Jeder Oberton klingt mit derselben Intensität weiter, die er durch die Anfangsbedingungen mitbekommen hat – auf ewig, wenn es keine Reibung gäbe.

Bei der allgemeinen Gasgleichung ist das mit der Linearität etwas anderes. Es handelt sich nicht um ein fundamentales Gesetz wie Newton II, sondern um die summarische Beschreibung eines statistischen Effekts. Die eigentlichen Akteure sind die Gasmoleküle. Die sind erstens sehr zahlreich, und zweitens stoßen sie die ganze Zeit zusammen und tauschen dabei Impuls und Energie aus. Der Stoßprozess selbst ist so chaotisch, dass es schlimmer kaum geht. Ob die zwei Gasmoleküle zentral oder ein bisschen versetzt aufeinanderballern, macht für ihren weiteren Weg einen Riesenunterschied: empfindliche Abhängigkeit von den Anfangsdaten in Reinkultur.

Was folgt aus dem Chaos im Kleinen? Die totale Ordnung im Großen. Die Stöße sind im Effekt vom Zufall nicht zu unterscheiden und so zahlreich, dass das System ergodisch ist, das heißt jeden Zustand, den es in der Theorie annehmen könnte, tatsächlich annimmt – näherungsweise. Gute Systeme kommen in den Himmel, nichtlineare überallhin. Infolgedessen herrschen binnen kürzester Zeit im ganzen Fahrradschlauch, Dampfkochtopf oder Motorzylinder ein einheitlicher Druck und eine einheitliche Temperatur – aus statistischen Gründen. Jeder Freiheitsgrad der Bewegung kriegt im Mittel denselben Anteil an der Gesamtenergie ab. Irgendwelche Abweichungen sind zwar theoretisch denkbar, aber hoffnungslos unwahrscheinlich.

Mit einem linearen Kraftgesetz wäre das nicht passiert – siehe das Gegenbeispiel mit der schwingenden Saite. Wenn man also in deren mathematischer Modellierung die fiktiven Schraubenfedern mit einem nichtlinearen statt einem linearen Kraftgesetz ausstattet, sollte auf jede anfänglich geregelte Schwingung das Chaos einwirken mit dem Effekt, dass sich die Energie über alle Schwingungsmoden gleichmäßig verteilt.

So hatten sich das Enrico Fermi, John Pasta und Stanislaw Ulam Anfang der 1950er Jahre auch gedacht. Und da sie gerade einen der ersten Computer der Welt, den MANIAC, zur Verfügung hatten, ließen sie ihn eine schwingende Saite mit nichtlinearem Kraftgesetz rechnen – quasi als Erholung von ihrer damaligen Hauptbeschäftigung, dem Entwurf einer Wasserstoffbombe.

Das Ergebnis war eine Überraschung. Die Energie wanderte zunächst von der ersten Mode, der Grundschwingung, ab, verteilte sich irgendwie auf die anderen – und kam nach einer Weile wieder zurück! Zunächst nur zu 97 Prozent, später dann praktisch vollständig. Ab da wiederholte sich das Verhalten des Systems in regelmäßigen Zeitabständen.

Damit hatte man nun überhaupt nicht gerechnet. Ein System mit einer nichtlinearen Wechselwirkung zeigt ein periodisches Verhalten! Und zwar ein System mit vielen Komponenten: 64 Massepunkten, wahrscheinlich das Maximum dessen, was in den Arbeitsspeicher des MANIAC passte. Bei zwei Komponenten hätte man sich trotz nichtlinearer Wechselwirkung nicht so sehr über eine periodische Lösung gewundert; das kriegen eine Sonne und ein Planet schließlich auch hin. Aber so hatten Fermi, Pasta und Ulam eine Entwicklung losgetreten, die noch weit in die Zukunft fortwirkte.

Heute wissen wir: Es gibt eine Klasse nichtlinearer Systeme, die ein „ordentliches“ Verhalten zeigt, das mit dem linearer Systeme zumindest gewisse Gemeinsamkeiten hat. Man findet sie an den verschiedensten Stellen; das FPU-System (so genannt nach den Initialen der Entdecker) ist nur eines von zahlreichen Beispielen und noch nicht einmal das eindrucksvollste. Aber davon erzähle ich beim nächsten Mal.

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