Die meisten Zahlen sind unaussprechlich

Christoph Pöppe

Nettes Spiel beim Abendessen: Kind giert nach dem großen Stück Kuchen, das noch übrig ist. Vater hält es für pädagogisch sinnvoll, nur ein halbes Stück herauszurücken. Kind isst es auf und giert weiter. Vater lässt sich erweichen und gibt ihm von der übriggebliebenen Hälfte die Hälfte. Kind isst auf und hat noch immer nicht genug. Vater gibt die Hälfte vom Rest …
So könnte das Spiel endlos weitergehen – nicht in der Realität natürlich. Irgendwann muss Kind ins Bett, und überhaupt lässt sich Kuchen nicht beliebig fein zerteilen. Aber in der Theorie? Kein Problem. Am Ende (was immer das heißen mag) haben wir den Kuchen in unendlich viele Teile zerlegt, jedes von ihnen endlich groß, und alle zusammen sind nicht mehr als der ursprüngliche Kuchen.

Dasselbe Spiel mit Zeit statt Kuchen ist noch deutlich überzeugender, denn anders als beim Kuchen gibt es keinen offensichtlichen Grund, warum ein Zeitintervall nicht in beliebig kleine Teile zerlegt werden dürfte. Der antike Philosoph Zenon von Elea hat das in seiner berühmt gewordenen Geschichte von Achilles und der Schildkröte getan und stieß auf einen – für ihn – unauflöslichen Widerspruch: Es könnten sich doch nicht unendlich viele Zeitintervalle zu einem endlichen aufaddieren. Da aber genau das in der Realität passiert – wie jeder sehen kann, holt Achilles die Schildkröte ein –, besteht ein Widerspruch zwischen Theorie und Realität. Also, schließt Zenon messerscharf, muss die Realität falsch sein. Dieser unglaublichen Dreistigkeit verdankt Zenon seine bis heute andauernde Bekanntheit.

Heute wissen wir es besser. Der Grenzwertbegriff versetzt uns in die Lage, eine unendliche Summe sauber und widerspruchsfrei zu definieren, und mit Hilfe der Formel für die Summe einer geometrischen Reihe können wir sie sogar manchmal ausrechnen, zum Beispiel in den beiden oben angeführten Beispielen. Da kommt der Eindruck auf: Unendlich ist ja gar nicht so viel. Immerhin passt eine Unendlichkeit unter gewissen Umständen problemlos in ein Zeitintervall oder ein Stück Kuchen.

Die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen, wohlgemerkt, das, was die Mathematiker „abzählbar unendlich“ nennen. Es gibt noch viel unendlichere Mengen!

Aber der Reihe nach. Wie vergleicht man die Größe unendlicher Mengen? Das hat uns Georg Cantor (1845–1918) mit seiner damals revolutionären Mengenlehre erklärt. Zwei Mengen sind gleich groß („gleichmächtig“ in der Ausdrucksweise der Mengentheoretiker, die keine Missverständnisse aufkommen lassen wollen), wenn es eine Abbildung gibt, die jedem Element der einen Menge genau eines der anderen zuordnet. Insbesondere ist eine Menge abzählbar, wenn man ihre Elemente sämtlich nummerieren kann. Denn das heißt nichts anderes, als dass man jedem Element eine natürliche Zahl (eine „Nummer“) zuordnen kann und kein unnummeriertes übrigbleibt.

Und dann stellt sich heraus, dass abzählbar unendlich doch ganz schön viel ist. Zum Beispiel ist die Menge aller Paare natürlicher Zahlen abzählbar. Das will auf den ersten Blick nicht einleuchten. Immerhin bilden diese Paare eine Tabelle, die nicht nur nach rechts unendlich ist, sondern auch nach unten, unendlich mal unendlich sozusagen:

Aber es ist kein Problem, diese doppelt unendliche Menge mit den einfach unendlichen natürlichen Zahlen abzuzählen. Man zählt entlang den (endlichen) Diagonalen:

Ja, die unendlich vielen schrägen Zählreihen werden immer länger, und für das imaginäre Männchen, das die Paare abzählt, wird es immer mühsamer, auch nur eine Zeile weiterzukommen; aber derlei Beschwernisse verschwinden im Unendlichen. Einer der wesentlichen Gründe, warum die Mathematiker das Unendliche so schätzen: Dorthin kann man allerlei abschieben, was einem im Endlichen nur lästig wäre.

Jetzt nennen wir das erste Element jedes Paares den Zähler und das zweite den Nenner, und schon haben wir die Tabelle in ein Verzeichnis aller (positiven) Brüche verwandelt. Die rationalen Zahlen sind abzählbar! (Die negativen rationalen Zahlen bringt man mit einem einfachen Kunstgriff auch noch in der Abzählung unter.)

Das ist nun schon etwas heftiger. Immerhin liegen die rationalen Zahlen dicht auf der Zahlengeraden: Man findet sie auf jedem noch so kleinen Abschnitt, und wenn man noch weiter hineinzoomt, tauchen immer wieder neue auf. Trotzdem gibt es nicht mehr von ihnen als die mit ordentlichem Abstand auf der Zahlengeraden aufgereihten natürlichen Zahlen.

Und so lückenlos sie jedes Intervall zu füllen scheinen: Es gibt Lücken zwischen ihnen, die irrationalen Zahlen. Dass die Wurzel aus 2 nicht rational sein kann, ist leicht zu beweisen (und hat angeblich die alten Griechen zur Verzweiflung gebracht). Gleiches gilt für die Wurzel aus jeder natürlichen Zahl, die nicht gerade eine Quadratzahl ist, und alles, was man aus ihnen und den bereits vorhandenen Zahlen durch Addieren und Multiplizieren machen kann. Berühmte irrationale Zahlen wie \(\pi\) und e kommen noch hinzu.

Am Ende stellt sich heraus: Die irrationalen Zahlen sind noch unendlicher als das gewöhnliche Unendliche. Sie sind überabzählbar; man sagt auch: Die Menge der reellen Zahlen hat die Mächtigkeit des Kontinuums. Das beweist man mit Cantors klassischem Diagonalargument. Aber es handelt sich um eine andere Diagonale als die, mit der ich oben die Abzählbarkeit der Paare natürlicher Zahlen gezeigt habe.

Was dort für die Paare funktioniert, lässt sich ohne große Mühe auf Tripel, Quadrupel, … allgemein endliche Folgen natürlicher Zahlen übertragen. Alle diese Mengen sind abzählbar: Man schreibt sie als drei-, vier-, … n-dimensionale Tabelle und ribbelt die von ihrem endlichen Ende her auf. Aber die irrationalen Zahlen passen in keine derartige Tabelle; sie sind eben keine endlichen Ziffernfolgen, sondern haben unendlich viele Ziffern hinterm Komma, die auch niemals periodisch werden.

Cantors Diagonalargument verläuft dann nach dem klassischen Katz-und-Maus-Spiel, auch Widerspruchsbeweis genannt: Wenn du behauptest, du hättest eine Abzählung der irrationalen Zahlen, dann konstruiere ich eine Zahl, die garantiert nicht darin enthalten ist. Die kannst du zwar dazunehmen, aber dann konstruiere ich zu der erweiterten vorgeblichen Abzählung eine neue Zahl, die nicht darin enthalten ist, und so weiter. Jedenfalls verlierst du mit Sicherheit.

Na schön, dann sind die reellen Zahlen eben noch unendlicher als die rationalen. Aber brauchen wir die wirklich alle?

Fürs praktische Rechnen bestimmt nicht. Was wir an physikalischen Größen (Längen, Zeiten, Kräfte, Massen …) auszurechnen haben, benötigen wir immer nur bis zu einer gewissen Genauigkeit. Selbst für die exotischsten Anwendungen sind 40 gültige Dezimalstellen mehr als genug. Davon abgesehen kann der größte denkbare Computer nicht mit jeder beliebigen Irrationalzahl umgehen. Da er aus endlich vielen Atomen besteht, hätte er gar nicht genug Speicher, um eine Zahl mit unendlich vielen Dezimalstellen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn mit ihr zu rechnen.

Es gibt so einen inoffiziellen Wettbewerb: Wer berechnet die meisten Stellen von \(\pi\)? Der Rekord steht derzeit bei 50 Billionen. Das ist wirklich sehr viel, immerhin musste ein ziemlich neuer Computer mehr als 300 Tage dafür rechnen; aber verglichen mit der Unendlichkeit ist das nach wie vor vernachlässigbar. Und eine praktische Verwendung für die 5×1013 Stellen gibt es auch nicht.

Man muss die ganze unendliche Ziffernfolge ja auch nicht haben. Ein Zeichen wie \(\pi\) ist allemal genug, um die berühmte Irrationalzahl in aller wünschenswerten Eindeutigkeit zu beschreiben. Dasselbe gilt für Ausdrücke wie \(\sqrt 2\) oder „die kleinste Nullstelle von \(x^4-12x^3+2\)“ oder so komplizierte Ausdrücke wie \[2 \int_0^1 {dt \over \sqrt{1-t^4}} \] (diese Zahl hat es sogar zu einem Eigennamen gebracht: „lemniskatische Konstante“). Es gibt also sehr viele Irrationalzahlen, mit denen man „umgehen“ kann in dem Sinn, dass sie eindeutig definiert sind und für sie gewisse Rechenregeln anwendbar sind. Aber ach! Die Menge dieser Zahlen ist abzählbar.

Wie das? Na ja, die Beschreibung jeder dieser Zahlen muss mit endlich vielen Zeichen aus einem begrenzten Zeichenvorrat auskommen. Denn mit mehr als endlich vielen Zeichen können die Computer nicht umgehen, und die Menschen schon gar nicht. Wenn man sich vorher auf geeignete Konventionen einigt (das muss man sowieso; schon die gewöhnlichen Ziffern sind Konventionen zur Bezeichnung kleiner natürlicher Zahlen), genügt als Zeichenvorrat schon das Alphabet plus die Ziffern und ein paar Sonderzeichen.

Man nehme der Reihe nach alle Zeichenketten der Länge 1, der Länge 2, 3 und so weiter; davon gibt es jeweils endlich viele, also kann man sie der Reihe nach abzählen, also ist die Menge aller endlichen Zeichenketten aus einem endlichen Zeichenvorrat abzählbar, und davon ist die Menge aller mathematisch sinnvollen Darstellungen einer Zahl eine (sogar ziemlich mickrige) Teilmenge.

Das heißt aber auch: Für die überwältigende Mehrheit aller reellen Zahlen können wir keine Bezeichnungen finden, und wenn wir die mathematische Formelsprache auf die Spitze treiben. Fast alle Zahlen sind unaussprechlich.

Das hat eine merkwürdige Konsequenz, wenn es darum geht, Mengen von Zahlen zu „messen“. In diese Verlegenheit kommt man zum Beispiel in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Nehmen wir einen Zufallsprozess, der reelle Zahlen gleichverteilt im Intervall zwischen 0 und 1 produziert. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die nächste Zahl zwischen 0,4 und 0,6 fällt? 0,2, was sonst. Das „Maß“ aller Zahlen in einem Intervall ist gleich der Länge dieses Intervalls.

Die Mathematiker mit ihrem Hang zum Verallgemeinern denken über alle möglichen Maße nach; das sind Abbildungen, die jeder Teilmenge einer gewissen Grundmenge eine reelle Zahl zuordnen und einige vernünftige Bedingungen erfüllen. Diese Vielfalt an Maßen braucht man auch für eine ordentliche Wahrscheinlichkeitstheorie. Für unsere Zwecke genügt das „Standardmaß“ (offizieller Name: Lebesgue-Maß), das dem Intervall [a, b] die Zahl ba zuordnet.

Was ist das Maß eines einzelnen Punktes auf der Zahlengerade? Null, was sonst. Was ist das Maß einer abzählbaren Teilmenge der reellen Zahlen? Auch null. Zur Definition des Maßes gehört nämlich, dass man die Maße abzählbar vieler (disjunkter) Teilmengen aufsummieren darf.

Also: Alle Zahlen, die man sich ausdenken (und mit endlich vielen Zeichen beschreiben) kann, sind eine Menge vom Maß null, kurz „Nullmenge“ genannt. Und der oben genannte Zufallsprozess trifft beim nächsten Mal mit Wahrscheinlichkeit 1 eine Unaussprechliche. (Ja, Wahrscheinlichkeit 1 ist nicht ganz dasselbe wie Sicherheit …).

Das ist schon etwas gewöhnungsbedürftig.

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