Stochastische Prozesse und der Sieg des Sozialismus

Christoph Pöppe

Die Idee lässt sich bis auf den Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) zurückverfolgen: Lasst uns ausrechnen, was das Beste für die gesamte Gesellschaft ist! Setzen wir alles, was die Menschen können und wollen, in Zahlen um, bilden eine gigantische Funktion, die das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft (oder auch der gesamten Menschheit) beschreibt, und dann variieren wir die Parameter, von denen die Funktion abhängt, so, dass diese Funktion ein Maximum erreicht. Das wäre dann eine klassische Optimierungsaufgabe. Mit Nebenbedingungen wie Einhaltung der Menschenrechte. Das ganze politische Gezänk hätte ein Ende, weil man die optimale Politik einfach ausrechnen würde. Das einzige, über das man sich noch streiten könnte, wären Rechenfehler. Und solche Streitigkeiten sind bekanntlich rasch und mit eindeutigem Ergebnis zu beenden.

Warum funktioniert das nicht? Schon weil die Menschen die größten Schwierigkeiten hätten, das, was sie wollen (und was sie dafür zu tun bereit wären), in Zahlen auszudrücken. Außerdem ändern sich Präferenzen mit der Zeit, mit der Mode und mit den Präferenzen der Mitmenschen. Und selbst wenn alle diese Probleme überwunden wären, dann könnte vielleicht ein gigantischer Computer mit gigantischem Aufwand eine konkrete Lösung berechnen (die alsbald veralten würde), aber für allgemeine Aussagen (Welche Steuerquote ist optimal? Was ist ein gutes gesetzliches Rentenalter? Soll man einen Mindestlohn verordnen? Wie soll das Aufziehen von Kindern honoriert werden?) wäre die Sachlage immer noch viel zu kompliziert.

Wer ein handhabbares Modell einer menschlichen Gesellschaft aufstellen will, muss also radikal vereinfachen, und zwar so, dass die Eigenschaften, auf die es ankommt, erhalten bleiben – das Dilemma jeder mathematischen Modellierung. Das Modell, das ich Ihnen hier vorstellen möchte, vereinfacht in der Tat so radikal, dass einem gelegentlich die Spucke wegbleibt; gleichwohl kommt es zu bemerkenswerten Schlüssen. Der Statistiker F. Thomas Bruss, der bis zu seiner Emeritierung an der Université Libre de Bruxelles arbeitete, hat es in jahrzehntelanger Arbeit entwickelt. An der Endfassung war sein Mitarbeiter Mitia Duerinckx beteiligt (F. Thomas Bruss, Mitia Duerinckx: Resource dependent branching processes and the envelope of societies. Ann. Appl. Probab. 25(1), 324–372 (Februar 2015); F. Thomas Bruss: Grenzen einer jeden Gesellschaft. Jahresberichte der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 2014).

Es handelt sich um ein stochastisches Modell. Das heißt, der Modellierer erhebt gar nicht erst den (hoffnungslosen) Anspruch, das Verhalten jedes einzelnen Menschen zu beschreiben. Vielmehr sind die Einzelpersonen des Modells Zufallsvariable: Man kennt von ihren Eigenschaften so etwas wie den Durchschnittswert und vielleicht noch die durchschnittliche Abweichung vom Durchschnitt (die Varianz). Im Übrigen glaubt man daran, dass jeder Einzelmensch eine Stichprobe aus ein und derselben (bekannten) Wahrscheinlichkeitsverteilung ist. Entsprechend gibt es auch keine Prognosen über Einzelschicksale, sondern nur allgemeine Aussagen darüber, wie sich die Gesellschaft wahrscheinlich entwickeln wird.

Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Was man nicht weiß (und der Einfachheit zuliebe auch gar nicht wissen will), nennt man Zufall und beschränkt sich auf Durchschnittsaussagen – ein etabliertes Verfahren.

Die nächste Modellannahme könnte schon etwas mehr Kopfschütteln erregen: „asexuelle Reproduktion“. Man mag den Menschen ja in Bezug auf Sex einiges nachsagen, aber wie die Bakterien treiben wir’s nun wirklich nicht. Dennoch: Die Annahme ist vollkommen unproblematisch. Bei dem globalen Blickwinkel des Modells kommt es überhaupt nicht darauf an, dass sich für einen neuen Menschen zwei bereits vorhandene zusammentun müssen. Nur die Geburtenrate muss stimmen.

Wir treiben’s auch nicht wie manche Insekten, bei denen zu jedem Zeitpunkt nur die Mitglieder einer Generation leben und die Nachkommen von den Vorräten zehren, die die Vorfahren letztes Jahr angehäuft haben. Genau das unterstellt jedoch das Modell. Na gut, dann kann es die Verwerfungen wie die Überalterung der Gesellschaft, die gegenwärtig durch den demografischen Wandel entstehen, nicht abbilden. Stattdessen findet der Generationenwechsel nicht, wie in der Realität, die ganze Zeit ein bisschen statt, sondern auf einen Schlag. Das ist das, was man den Diskretisierungsfehler nennt: Man unterstellt entgegen der Realität, dass alles Wesentliche nur zu bestimmten („diskreten“) Zeitpunkten passiert. Wenn das Zeitintervall zwischen diesen Ereignissen kurz ist gegen die Zeit, auf die es ankommt – was in diesem Modell ungefähr die Ewigkeit ist –, hält sich der Diskretisierungsfehler in Grenzen.

Jeder der gedachten Menschen kommt mit drei Eigenschaften auf die Welt, in einem Ausmaß, das jeweils aus einer geeignet definierten Zufallsverteilung gezogen wird: „Fleiß“, die Menge an Ressourcen, die er dem Bruttonationalprodukt durch seine Arbeit hinzufügt; „Fruchtbarkeit“, die Anzahl seiner Nachkommen; und „Anspruch“, das ist der Anteil am Volksvermögen, den er für sich begehrt. Die letzte Eigenschaft erlaubt verschiedene Interpretationen; eine mögliche ist „Einkommen vor Steuern und Abgaben“, eine weniger freundliche: das, was der Mensch durch Arbeit, Ausnutzen einer Machtposition oder ererbtes Vermögen erwirbt und vorläufig sein eigen nennt – oder auch nur davon überzeugt ist, dass es ihm zusteht.

Hier wird es bereits problematisch, denn alle drei Eigenschaften sind in der Realität nicht Konstanten des Lebens, sondern ändern sich zum Teil erheblich, gerade bei den Ansprüchen durch sehr komplizierte gesellschaftliche Aushandlungsprozesse. Die im Modell abzubilden ist aussichtslos; im Gegenzug muss man in Kauf nehmen, dass das Modell nur ungefähr abbildet, was in der Gesellschaft bisher üblich ist, und jeden gesellschaftlichen Wandel außer Acht lässt.

Jetzt kommt der Staat und verteilt das gesamte Volksvermögen um. Da denkt man natürlich sofort an das Finanzamt oder die Rentenversicherung. Aber das Konzept ist allgemeiner und bezieht auch gewisse gesellschaftliche Aushandlungsprozesse mit ein, die bei den oben genannten Eigenschaften unter den Tisch gefallen waren. Im Konzept von Bruss verfügt eine Gesellschaft über einen gewissen Weitblick und hat zwei Ziele:
(1) das eigene Fortbestehen in der Zukunft;
(2) das Wohlergehen ihrer Mitglieder.
Dabei hat Ziel 1 im Konfliktfall Vorrang. Und der Konflikt ist nicht zu übersehen: Ziel 2 würde am besten dadurch verfolgt, dass die gegenwärtige Generation ihre Reichtümer verprasst und ihre Nachfahren – zu denen sie wegen der Diskretisierungsannahme ohnehin keinen Kontakt hat – dem Hungertod aussetzt. Das wollen reale Gesellschaften in der Tat nicht.

Um ihre Ziele zu erreichen, betreibt die Gesellschaft das, was Bruss eine Politik nennt und was in der Tat auf eine Art Umverteilung hinausläuft. Wenn die Menschen fleißig, bescheiden und nicht allzu fruchtbar sind – genauer: wenn jeder durch seine Arbeit mehr erwirtschaftet, als seine Nachkommen zu konsumieren beanspruchen –, dann befindet man sich in einer Überflussgesellschaft: Die Summe der ererbten und erarbeiteten Güter minus dem Eigenverbrauch ist größer als die Summe aller Ansprüche. In diesem Fall ist die Politik einfach und konfliktfrei: Jeder kriegt, was er beansprucht, alle sind glücklich, und für die Nachkommen bleibt auch noch etwas übrig.

Wenn es aber, wie meistens, nicht für alle reicht? Dann ist Umverteilung angesagt. Im Modell von Bruss geschieht das auf eine merkwürdige Art: Die Politik bringt die Menschen in eine Reihenfolge und befriedigt jeden Anspruch vollständig, bis das Volksvermögen alle ist. Wenn nicht gerade Überfluss herrscht, gehen dabei einige Mitglieder der Gesellschaft leer aus. Ihnen bleibt nur die Option auszuwandern oder zu verhungern. Andere Methoden des Protests sind denkbar, aber nicht Bestandteil des Modells. Mildere Formen – den Reichen ein bisschen wegnehmen und den Armen ein bisschen Hartz IV spendieren – kommen nicht in Frage.

Verglichen damit kann man die zahlreichen Abzüge auf der eigenen Gehaltsabrechnung ja richtig nett finden. Wie kommt Bruss zu einer derart brutalen und realitätsfernen Form von Umverteilung? Ich fürchte, der Grund ist rein pragmatisch: Man kann sie besser rechnen. Und das Argument ist alles andere als nebensächlich. Das Modell ist schon jetzt sehr kompliziert und überfordert die klassischen Methoden. Wer da überhaupt noch etwas aussagen will, hat nicht mehr viel Auswahl bei der Modellierung seines Umverteilungsverfahrens.

Welche Möglichkeiten hat die Politik, die Menschen in eine Reihenfolge zu bringen? Sie könnte zum Beispiel auf jede Steuerungsmöglichkeit verzichten und die Ressourcen nach dem Zufallsprinzip zuteilen. Oder sich alle möglichen, sinnvollen wie absurden, Auswahlmechanismen ausdenken. Zwei Extremfälle verdienen allerdings besondere Beachtung:
„Strongest first“: Diejenigen mit den höchsten Ansprüchen werden zuerst bedient;
„Weakest first“: Die mit den niedrigsten Ansprüchen werden zuerst bedient.
Die Idee ist, dass die mit den niedrigsten Ansprüchen zugleich die Ärmsten sind oder, sagen wir, diejenigen, die beim Kampf um den Platz an der Sonne den Kürzeren gezogen haben: die Schwächsten halt. Entsprechend sind die Leute mit den höchsten Ansprüchen die Mitglieder der herrschenden Klasse. Und so gesehen drängt sich die Interpretation geradezu auf: „Strongest first“ ist der Kapitalismus, „Weakest first“ der Sozialismus, beides in Ausprägungen, die so krass bislang in keiner Gesellschaft realisiert sind. Der Kapitalismus legt den größten Wert auf Ziel 2, der Sozialismus auf Ziel 1.

Was für Ergebnisse liefert dieses so aufwendig erstellte Modell? Keine konkreten Prognosen, sondern allgemeine Aussagen für lange Zeiträume, wie sie für die Statistik typisch sind. Beispiele: Der Betrunkene, der mit jedem Schritt in eine zufällige Richtung torkelt, ist nach \(n\) Schritten annähernd \(\sqrt n\) Schrittlängen von seinem Ausgangspunkt entfernt. Wer lange genug Roulette spielt, geht mit Wahrscheinlichkeit 1 irgendwann pleite.

In Bruss’ Modell gibt es genau zwei Möglichkeiten für das Langzeitverhalten: Die Bevölkerungszahl geht gegen null oder gegen unendlich. Entweder stirbt die Gesellschaft aus, oder sie wächst über alle Grenzen. Letzteres ist wenig verwunderlich: Irgendwelche Grenzen des Wachstums sind nicht Bestandteil des Modells. Man darf diesen Fall also getrost als den günstigen Ausgang der Geschichte auffassen. Es stellt sich heraus, dass die beiden extremen Politiken auch in ihren Auswirkungen die Grenzen des Möglichen markieren: Keine Gesellschaft kann eine größere Überlebenswahrscheinlichkeit haben als die sozialistische, und keine kann ihre Mitglieder besser stellen als die kapitalistische. Nur ist diese mehr als alle anderen vom Aussterben bedroht, weil sie in Notzeiten sehr viele ihrer Mitglieder hinauswirft und ihr daraufhin vielleicht eine ungünstige zufällige Schwankung den Rest gibt.

Demnach müssten auf lange Frist die kapitalistischen Gesellschaften untergehen und nur noch die sozialistischen übrigbleiben. Das ist offensichtlich nicht, was man beobachtet.

Immerhin: Dass im Kapitalismus die Bevölkerung sinkt – durch Hungersnot oder Auswanderung –, das kommt vor. Was macht eine kapitalistische Gesellschaft in solchen Fällen? Sie ändert ihre Politik. Möglichst so, dass die Herrschenden nicht allzu viel abgeben müssen, aber merklich. Das erklärt die erstaunliche Langlebigkeit des kapitalistischen Systems.

Wohlgemerkt: Diese Tatsache widerlegt nicht das Modell von Bruss und Duerinckx. Sie macht nur klar, wie man es verwenden soll: Das Modell liefert eine Langzeitprognose unter der Voraussetzung, dass die gesellschaftlichen Grundeinstellungen – Fleiß, Fruchtbarkeit, Anspruch – ebenso unverändert bleiben wie die Politik. Wenn die Prognose so abschreckend ausfällt, dass die Gesellschaft sich genötigt sieht, an den Daten – Grundeinstellungen und/oder Politik – etwas zu ändern, trifft sie zwar nicht ein, hat aber genau deswegen ihren Zweck erfüllt.

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