Die seltsame Formel für den Body-Mass-Index

Christoph Pöppe

Mit meiner Körpergröße von 1,73 Metern habe ich es relativ einfach. Da das Quadrat von 1,73 ziemlich genau gleich 3 ist, muss ich das, was mir morgens die Waage erzählt, nur durch 3 teilen und erhalte meinen aktuellen Body-Mass-Index, was in der Regel als BMI abgekürzt wird. Und diese Zahl nehmen so ziemlich alle Beteiligten als Schätzwert dafür, ob ich zu dünn oder zu dick bin. Wie kommt diese merkwürdige Formel Körpermasse / (Körperlänge2) zu der Ehre, als Maßstab für ein gesundes Körpergewicht zu dienen?

Ja, die Physiklehrer müssen an dieser Stelle zu Recht darauf aufmerksam machen, dass Masse und Gewicht verschiedene Dinge sind. Das, worauf es am Ende ankommt, ist die Masse; aber da wir uns heute nicht von der Erdoberfläche wegbewegen werden, darf ich ohne Verwechslungsgefahr dem üblichen – falschen – Sprachgebrauch folgen und Masse und Gewicht synonym verwenden.

Auf den ersten Blick plausibel ist sie nicht. Wieso soll Kilogramm pro Quadratmeter ein Maß für Unter- oder Übergewicht sein? Kraft durch Fläche ist doch eigentlich Druck. Es versteht sich, dass größere Menschen im Durchschnitt schwerer sind als kleinere; aber um wie viel? Wenn man einen kleinen Menschen in Gedanken maßstäblich vergrößert, legt er in allen drei Dimensionen zu. Demnach sollte das Körpergewicht der dritten Potenz der Körperlänge proportional sein – und nicht der zweiten, wie die BMI-Formel nahelegt.

Ein Zahlenbeispiel: Wenn ein 1,73 Meter großer Mann 75 Kilogramm auf die Waage bringt, dann hat er einen BMI von 75/3 = 25, befindet sich also nach der gegenwärtig herrschenden Meinung gerade auf der Kippe zwischen Normal- und Übergewicht. Wir machen aus ihm durch maßstäbliche Vergrößerung einen Zweimetermann; dann wiegt er (2,00/1,73)3 mal 75 = 115,9 Kilo. Wenn der aber auch einen BMI von 25 haben soll, darf er nur 2,002 mal 25 = 100 Kilo wiegen. Und wenn er tatsächlich die 116 Kilo auf die Waage bringt, wäre ihm ein BMI von 29 zu bescheinigen, und der Arzt würde ganz vorsichtig das Thema Abnehmen anzusprechen versuchen.

Hat er damit Recht? Im Prinzip ja. Aber es ist überraschend schwierig, das sauber zu begründen.

Um auf empirischem Wege eine BMI-Formel zu finden, würde man eine repräsentative Stichprobe von Menschen auswählen, deren Körpergröße und -gewicht vermessen, diese Werte in ein Diagramm eintragen und dann diejenige Kurve finden, die am besten zu dieser Punktwolke passt. Das funktioniert nicht. Die Wolke ist so unförmig, dass so ziemlich jede Kurve die Werte gleich schlecht annähert. Kein Wunder: In jeder Größe gibt es ein breites Spektrum von leicht bis schwer.

Vor allem geht es aber darum, die Gesunden von den Ungesunden zu unterscheiden. Man sucht sozusagen ein Sortiment von Töpfen, in die man die Menschen einwerfen kann derart, dass die Insassen jedes Topfes in Bezug auf die Relation zwischen Körpergröße und -gewicht „gleichartig“ sind, auch wenn sie unterschiedlich groß und schwer sein dürfen. Einer der Töpfe trägt dann das Etikett „normalgewichtig“, andere „unter-“ oder „übergewichtig“ in verschiedenen Ausmaßen. Also braucht man ein Kriterium für „normalgewichtig“, was eben nicht an Größe und Gewicht gebunden ist, sonst würde man sich beim Definieren im Kreise drehen.

Also muss man sich die Leute genauer anschauen. Entweder man wählt die Grundgesamtheit so, dass nur Normalgewichtige vermessen werden – nicht nach der BMI-Formel, die man ja erst noch finden will, sondern nach anderen Kriterien. Oder man findet einen anderen, nicht vom BMI abhängigen Maßstab für Übergewicht.

Ancel Keys, der mit einer Veröffentlichung von 1972 [1] die Bezeichnung „body mass index“ in die Literatur einführte, beschritt beide Wege. Einerseits fand er – ausschließlich männliche – Kollektive, die er mit einer gewissen Berechtigung als gesund und einigermaßen normalgewichtig annehmen durfte: Studienanfänger an der University of Minnesota, die damals (1947–1949) zur Einschreibung noch medizinisch untersucht und dabei für gesund befunden wurden; Eisenbahnarbeiter in den USA und in Italien, denen die Ärzte zumindest das Fehlen von Herz-/Kreislaufkrankheiten bescheinigten, und einige andere Gruppen.

Bei denen sah die Wolke schon etwas geregelter aus. Keys konnte den Daten immerhin entnehmen, dass die BMI-Formel M/L2 (M Masse, L Länge) die Sachlage deutlich besser beschreibt als die „naive“ Formel M/L3, die der Vorstellung mit der maßstäblichen Vergrößerung entspricht.

Andererseits versuchte Keys einen vom Körpergewicht unabhängigen Maßstab zu finden für – ja, was genau? Übergewicht? Ist eben nicht unabhängig vom Körpergewicht. Übermäßiges Körperfett ist das, worauf es ankommt. Mit einem speziell geeichten Kneifgerät maß er die Dicke des Unterhautfettgewebes; und indem er seine Versuchspersonen komplett untertauchte (mit Blasröhrchen zum Atmen), bestimmte er ihr Körpervolumen und daraus (Dichte gleich Masse pro Volumen) ihre über den ganzen Körper gemittelte Gewebedichte. Da ein Liter Fett leichter ist als ein Liter Wasser, kann man aus dem Dichtewert den Anteil des Körperfetts an der Gesamtmasse erschließen.

Beide Messverfahren leiden unter offensichtlichen Ungenauigkeiten: Unterhautfettgewebe ist bei verschiedenen Menschen unterschiedlich verteilt und erlaubt nur ziemlich vage Schätzungen für das Gesamtfett; um aus der Gesamtdichte auf den Körperfettanteil zu schließen, muss man Annahmen über die Verteilung anderer Körperbestandteile wie Muskeln und Knochen machen, die ebenfalls nur ungenau zutreffen.

Bei allen Einwänden – die Keys korrekterweise auch aufführt – kommt dann doch ausreichend Material für eine empirische Rechtfertigung der BMI-Formel zu Stande.

Aber jegliche derartige Untersuchung kann offensichtlich nicht bestimmen, was gesund ist, sondern nur, was – für das jeweilige Kollektiv und für den Zeitpunkt der Untersuchung – durchschnittlich ist. Da gibt es merkwürdige Effekte. In den USA sind, wie allgemein in den entwickelten Industrieländern, die Leute in den letzten Jahrzehnten immer größer geworden. Zu einem bestimmten Zeitpunkt sind also die Alten im Untersuchungskollektiv im Durchschnitt kleiner als die Jungen. Außerdem ist ein Alter im Durchschnitt schwerer als ein gleich großer Junger; denn mit dem Alter legen die Leute typischerweise an Gewicht zu. Jetzt macht man eine Langzeituntersuchung und stellt fest, dass – was Wunder – die Alten häufiger sterben als die Jungen. Liegt das am höheren BMI oder schlicht am Alter? Wahrscheinlich eher an letzterem. Neuere Untersuchungen lassen vermuten, dass etwas mehr Fett auf den Rippen bei den Älteren die Überlebenschancen sogar verbessert.

42 Jahre später gingen Steven Heymsfield und seine Kollegen derselben Frage mit wesentlich reichlicherem Datenmaterial nach [2]. Dabei legten sie sich nicht vorab auf die BMI-Formel fest, sondern stellten ein allgemeineres Modell auf: M = a Lb. Körpermasse M ist proportional der Körperlänge L hoch eine Zahl b, die vorläufig offen bleibt; b=2 entspricht der BMI-Formel. Dann berechneten sie separat für vier verschiedene ethnische Gruppen – Weiße, getrennt nach solchen lateinamerikanischer Herkunft („hispanics“) und sonstigen, Schwarze und Koreaner – und beide Geschlechter, welcher Wert des Exponenten b jeweils am besten zu den Daten passt, und erlebten eine herbe Überraschung: Der so bestimmte Wert schwankte zwischen 1,19 (koreanische Frauen) und 2,42 (männliche hispanics)! Da mussten Heymsfield und Kollegen eine bessere Methode zur Messung des Körperfetts einsetzen: Sie machten Ganzkörperaufnahmen mit Röntgenstrahlen zweier verschiedener Wellenlängen („Dual-Röntgen-Absorptiometrie“, besser erläutert im englischen Wikipedia-Artikel), die von Knochen-, Fett- und Weichteilgewebe in unterschiedlichem Maß absorbiert werden, so dass man aus den Aufnahmen den Körperfettanteil errechnen kann. Am Ende konnten sie doch noch den Wert b=2 rechtfertigen.

Trotzdem bleibt ein ungutes Gefühl. Die vielen Messungen und statistischen Auswertungen liefern zwar immer bessere Nachweise für b=2, aber nicht wirklich eine Erklärung. Heymsfield und seine Kollegen haben in einer weiteren umfangreichen Studie [3] immerhin etwas Material dafür geliefert. Sie vermaßen neben Körperlänge und Gewicht auch den Leibesumfang, genauer: fünf verschiedene Umfänge, und zwar Bauch, Hüfte, Oberarm, Oberschenkel und Wade. Die fünf Messwerte erzählen keineswegs dasselbe, nicht einmal ungefähr – einleuchtend, wenn man bedenkt, dass es sehr verschiedene Körperbautypen gibt – „Apfel“- und „Birnenfigur“, „Sanduhr“, „Dreieck“ … –, und dass der Umfang von Oberarm und Wade eher etwas über die Muskeln sagt als über das Fett. Aber ein geeignet berechneter Mittelwert aus allen Umfängen erweist sich als geeigneter Indikator für Abweichungen vom Normalgewicht.

Dabei stellt sich heraus: Der mittlere Umfang ist nicht etwa proportional der Körperlänge, sondern der Wurzel aus der Körperlänge. Das klingt zunächst ziemlich merkwürdig; aber es stellt sich heraus, dass das zu den übrigen Befunden passt. Dazu stellt man sich den menschlichen Körper als Zylinder vor – etwas sehr realitätsfremd, aber zweckmäßig. Wenn jetzt der Mensch heranwächst, legt er an Länge wie an (kreisförmiger) Querschnittsfläche in gleichem Maße zu. Also: Querschnittsfläche ist proportional zu Körperlänge. Aber Querschnittsfläche ist proportional zu Umfang zum Quadrat (da war was: \(Q=\pi r^2\) und \(U=2\pi r\) …). Wenn man das umrechnet, kommt heraus, dass Umfang proportional zur Wurzel aus der Körperlänge ist.

Jetzt nehmen wir an, dass alle Menschen ungefähr die gleiche Massendichte haben. (In Wirklichkeit macht ein höherer Körperfettanteil eine geringere Massendichte, was man sich ja bei der Bestimmung desselben zu Nutzen machte; aber hier verschwindet dieser Unterschied in der allgemeinen Ungenauigkeit.) Dann ist Masse proportional dem Körpervolumen, das ist – beim Zylinder! – gleich \(L\pi r^2\), also ist Masse bis auf einen Proportionalitätsfaktor gleich \(Lr^2\). Das setzen wir in die Formel für den BMI ein: BMI = \(M/L^2 = a r^2/L \) mit einem Proportionalitätsfaktor a, auf den es nicht so genau ankommt. Und nach den Ergebnissen des vorigen Absatzes ist \(r^2/L\) für normalgewichtige Menschen eine Konstante. Mit anderen Worten: Die BMI-Formel ist genau diejenige, die den Effekt unterschiedlicher Körperlängen aus der ganzen Betrachtung herausrechnet. Was die Absicht hinter der Einführung der Formel war.

Nebenher geht in die ganze Argumentation die offensichtliche Tatsache ein, dass Abweichungen vom Normalgewicht sich praktisch gar nicht in der Höhe, sondern ausschließlich in der Breite und Dicke bemerkbar machen. Die Körperlänge ist also eine vom Ernährungsstatus unabhängige Größe.

Aber die wirklich interessante Frage haben wir damit natürlich nur verschoben: Wieso wachsen die Menschen sozusagen doppelt so intensiv in die Höhe wie in die Breite? Wieso ist ein großer Mensch – im Durchschnitt – dünner als ein maßstäblich vergrößerter Kleiner?

So wie es aussieht, ist die Antwort derzeit noch unbekannt. So äußert sich jedenfalls Heymsfield – und wenn irgendjemand es wüsste, dann müsste er es eigentlich auch wissen.

Literatur

[1] Ancel Keys et al.: Indices of relative weight and obesity. J Chronic Dis. 25(6), 329–343, 1972

[2] Steven Heymsfield et al.: Scaling of adult body weight to height across sex and race/ethnic groups: relevance to BMI. The American Journal of Clinical Nutrition, 100(6), 1455–1461, 2014

[3] Steven B Heymsfield et al.: Body circumferences: clinical implications emerging from a new geometric model. Nutrition & Metabolism 5, 24 2008. doi:10.1186/1743-7075-5-24

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