Die optimierte Eisenbahn

Christoph Pöppe

Eigentlich gehört das Finden eines Optimums zu den Kernkompetenzen der angewandten Mathematik. Wir haben ein System (eine Maschine, eine Lastwagenflotte, ein Flugzeug, einen Wald, …), dessen Funktion beschreiben wir durch Gleichungen. Wir wollen, dass das System in irgendeinem Sinne bestmöglich funktioniert, sagen wir zu den geringsten Kosten. Dazu definieren wir uns eine Funktion, die die Kosten des Betriebs beschreibt, und suchen deren Minimum.

Das dann wirklich zu finden ist im Einzelfall alles andere als einfach, aber wenigstens „richtige“ Mathematik. Häufig ist jedoch das Tückischste am Problem nicht das Lösen, sondern das Aufstellen. Die Realität ist in aller Regel komplizierter, als einem lieb ist. Welche ihrer Eigenschaften lässt man beim Aufstellen der Gleichungen (dem „Modellieren“) als unwesentlich weg? Mit welchen Gleichungen beschreibt man die wesentlichen? Und vor allem: Was genau ist die Zielfunktion? Es ist nicht von vornherein klar, dass die Kosten das Einzige sind, was einen an einem System stört.

Was ist die optimale Geschwindigkeit eines Fernverkehrszugs? Für die Reisenden ist die Antwort sehr einfach, vor allem, wenn sie so reich sind, dass sie nicht auf den Ticketpreis schauen müssen. Die Zielfunktion ist die Reisezeit, deren optimaler Wert ist offensichtlich null. Das entspricht einer unendlichen Geschwindigkeit, was ebenso offensichtlich fern jeder Realität ist. Na gut, das System hat eine technisch bestimmte Höchstgeschwindigkeit, die ist für die Reisenden das Optimum. Mit anderen Worten: Das Optimum liegt am Rande des zulässigen Bereichs und ist deshalb – in diesem Fall – nicht schwer zu finden.

Für die Bahngesellschaft sieht das schon anders aus. Ich habe mal gelesen (und finde die Quelle leider nicht mehr), dass vor ungefähr 100 Jahren die Deutsche Reichsbahn derartige Berechnungen angestellt hat. Damals war eine Fernreise ohnehin ein eher seltenes Ereignis im Leben eines Menschen, da kam es ihm auf einige Stunden Reisezeit mehr oder weniger nicht an, und andere Verkehrsmittel standen praktisch nicht zur Verfügung. Also durfte die Reichsbahn die vereinfachende Annahme treffen, dass die Anzahl der Fahrgäste und damit die Ticketeinnahmen im Wesentlichen unabhängig von der Fahrgeschwindigkeit seien. Damit hatte sie nur noch die Kosten des Fahrbetriebs zu minimieren.

Welche Kosten sind das? Erstens Personal: Lokführer, Heizer, Schaffner, Fahrdienstleiter, Schrankenwärter, … Zweitens Material: Lokomotiven, Waggons, Schienen … Drittens Kohle, oder sagen wir allgemeiner Energie, damit wir es besser auf heutige Verhältnisse übertragen können.

Personal wird mit zunehmender Geschwindigkeit billiger. Das klingt zunächst blödsinnig, leuchtet aber ein, wenn man sich klarmacht, dass es auf die Kosten pro Personenkilometer ankommt, anders ausgedrückt, auf den Aufwand, den die Bahn treibt, um einen Menschen von A nach B zu befördern. Wenn die Bahn doppelt so schnell wird, fährt ein Zug in derselben Zeit zweimal hin und zurück statt nur einmal, hat also doppelt so viele Passagiere befördert. Andersherum: Wo die Bahn früher vier Zuggarnituren plus Personal einsetzen musste, um alle Reisenden an einem Tag zu transportieren, genügen jetzt zwei.

Mit der Kohle sieht es dagegen ungünstig aus. Das liegt daran, dass bei hohen Geschwindigkeiten der größte Teil der Energie für die Überwindung des Luftwiderstands aufgewendet werden muss. Und der ist proportional dem Quadrat der Geschwindigkeit.

Damit haben wir die Zutaten für unser Optimierungsproblem beisammen: Personal- und Materialaufwand pro Personenkilometer ist proportional 1/v, wo v die Geschwindigkeit ist, und Energieaufwand ist proportional v2. Tragen wir beides über v als der unabhängigen Variablen auf, dann gibt der erste Term eine Hyperbel: Mit zunehmender Geschwindigkeit wird es immer billiger, aber wenn v gegen null geht, streben die Kosten gegen unendlich. Der zweite Term gibt eine Parabel: Für v=0 ist der Luftwiderstand gleich null, und ab da geht es immer steiler aufwärts. Wenn man jetzt für die konstanten Vorfaktoren (Preise, Löhne, Kohleverbrauch …) konkrete Zahlen einsetzt, ist das Problem eine Aufgabe für die Schule. Aber auch ohne uns ernsthaft mit der Realität befassen zu müssen, sehen wir, dass die beiden Kurven zusammenaddiert genau ein Minimum haben müssen. Es gibt also eine eindeutige Lösung des Optimierungsproblems.

Beantwortet die die Fragen des Anwenders? Na ja. Bei der Reichsbahn kamen damals angeblich ungefähr 170 Kilometer pro Stunde heraus. Na ja – bei dem Tempo wäre nicht nur den Dampfloks die Puste ausgegangen, die Züge wären auch aus der Kurve geflogen. Immerhin konnte die Reichsbahn damals den Schluss ziehen, dass der Energieaufwand fürs Schnellfahren kein begrenzender Faktor für die Wahl des Tempos ist. Das ist unter heutigen Verhältnissen anders. Aktuelle Schätzungen der optimalen Geschwindigkeit liegen in der Größenordnung von 250 km/h, was durchaus realisiert wird; aus der Literatur geht nicht klar hervor, ob außer den oben genannten Termen noch weitere in die Betrachtung eingehen.

Interessanter als die schlichte Zahl, die am Ende der Rechnerei steht, ist deren Abhängigkeit von den Eingangsgrößen. Wenn Arbeit besser bezahlt wird und Energie sich nicht in gleichem Maß verteuert, rutscht das Optimum nach rechts auf der v-Achse; also werden die Züge schneller oder sollten es zumindest werden, wenn die Bahn sich optimal verhalten würde. Wenn umgekehrt der Staat auf die – durchaus attraktive – Idee käme, den Energieverbrauch stärker und dafür die Arbeit weniger zu besteuern, läuft das auf eine Entschleunigung hinaus.

Eine andere Einflussgröße kommt erst bei genauerem Nachschauen zum Vorschein. Die Bahn bezahlt ja ihr Material anders als das Personal nicht pro Stunde. Sie schafft es an und nutzt es, bis – ja, bis wann? Das weiß man bei der Anschaffung nur ungefähr. Lokomotiven und Wagen werden im Verlauf der Zeit schlechter, bis sie schließlich unbrauchbar sind, und zwar auf zwei verschiedene Arten: Verschleiß proportional zur Anzahl der gefahrenen Kilometer und „Altern“ proportional zur Zeit. Für die Bestimmung der optimalen Geschwindigkeit fällt der Verschleiß aus der Gleichung heraus, denn er trägt einfach mit einem konstanten Preis pro Kilometer zu den Gesamtkosten bei: Man teile den Anschaffungspreis durch die Anzahl der Kilometer bis zum Zusammenbruch.

Aber wahrscheinlich ereilt die Verschrottung das rollende Material bereits früher, aus Altersgründen. Das muss nicht unbedingt Verrostung sein. Vielleicht hat ein technischer Fortschritt stattgefunden, irgendwelche Sicherheitsbedingungen sind verschärft worden, oder die Dinger sehen inzwischen so alt aus, dass die Marketingabteilung auf einem neuen Design besteht. Jedenfalls muss, wer den Betrieb optimieren will, davon ausgehen, dass das heute angeschaffte Material es nur eine bestimmte Zeit macht, sagen wir 30 Jahre. Je mehr Kilometer es in dieser Zeit zurücklegt, desto besser. Anschaffungspreis geteilt durch die geschätzte Lebensdauer gibt einen Preis pro Stunde, der in die Kalkulation eingeht. Aber Vorsicht! Man darf die Zinsen nicht vergessen. Korrekt gerechnet muss man unterstellen, dass die Bahn die Lokomotive auf Kredit kauft und von dem fiktiven „Stundenlohn“, den die Lokomotive „verdient“, wenn sie fährt, den Kredit samt Zinsen abzahlt, so dass zum Zeitpunkt der Verschrottung das Konto wieder ausgeglichen ist.

Wenn also die Zinsen steigen, geht der Stundenlohn für das Material mit in die Höhe, von unseren beiden Kurven wird die Hyperbel größer, und das Optimum rutscht nach rechts. Je höher die Zinsen, desto schneller die Züge – theoretisch.

Aber wie kommt ein Zinssatz zu Stande? Erste Antwort: Er ist ein Maßstab für die Ungeduld der Wirtschaftssubjekte (siehe „Planung, Selbstkontrolle und Ungeduld“, Spektrum Highlights 3/2015, S. 38). Wer ein Ding sofort haben möchte, es aber erst in einem Jahr bezahlen kann, kauft es auf Pump und erhöht damit die Nachfrage nach geliehenem Geld. Die Menschen sind um so ungeduldiger – in diesem Sinne –, je unsicherer nach ihrer Einschätzung die Zukunft ist. Wenn ich davon ausgehe, dass in einem Jahr die Verhältnisse noch so sind wie heute, fällt es mir leichter, die Erfüllung meiner Wünsche aufzuschieben. Wenn ich aber fürchten muss, dass das Ding nächstes Jahr nicht mehr zu haben ist oder ich es nicht nutzen kann, bin ich eher bereit, die Zinsen draufzuzahlen. Also: Unsichere Zeiten erhöhen die Ungeduld und in der Folge die Zinsen. Auf der anderen Seite drückt ein erhöhtes Angebot an Geld, das nach Anlegemöglichkeiten sucht, die Zinsen nach unten. Also wirkt die gegenwärtige lang anhaltende Niedrigzinsphase in der Tendenz entschleunigend, einerlei ob sie auf mangelnde Ungeduld oder ein Überangebot an Geld zurückzuführen ist.

Vorsicht! Wir stecken immer noch in unserem unzulässig vereinfachenden Reichsbahnmodell. Zwei wesentliche Aspekte sind bisher nicht zur Sprache gekommen. Erstens brauchen schnelle Züge in aller Regel neue Schnellfahrstrecken. Der Aufwand, sie zu bauen, ist gewaltig. Und es ist nicht besonders klar, über welchen Zeitraum er sich bezahlt machen muss. Sagen wir 30 Jahre? Der größte Teil des Aufwands – Grundstückserwerb und Trassierung – hält wesentlich länger; aber wird in 30 Jahren noch jemand auf dieser Strecke Eisenbahn fahren wollen? Je stabiler die Zeiten sind, desto eher kann man eine solche Prognose aufstellen. Andersherum: In unsicheren Zeiten sieht es schlecht aus für eine Schnellfahrstrecke, ein Effekt, der dem Zinseffekt genau entgegenwirkt.

Es wird noch schwieriger. Man kann eine Schnellfahrstrecke gnadenlos geradeaus verlegen, was extrem hohe Geschwindigkeiten erlaubt, aber wegen der vielen Brücken und Tunnel auch extrem teuer ist, oder um den Berg herum fahren statt durch ihn hindurch, was deutlich günstiger kommt, aber eben auch ein längerer Weg ist und wegen der engeren Kurven nur geringere Geschwindigkeiten erlaubt. Da kann der Aufwand leicht mit dem Quadrat der – geplanten – Geschwindigkeit ansteigen, oder noch stärker. Dann ist es nicht mehr angemessen, ihn bei den geschwindigkeitsunabhängigen Kosten zu verbuchen. In der Tat scheint die Abwägung Preis für den Bau gegen Reisezeitgewinn in neuerer Zeit häufiger gegen die ganz brutalen Schnellfahrstrecken auszugehen.

Der zweite Aspekt: Die Bahn will durch Schnellfahren nicht in erster Linie ihr Material und Personal besser nutzen, sondern Fahrgäste von den Konkurrenten Auto und Flugzeug abziehen. Das ist ein klassisch-marktwirtschaftliches Ziel; nur funktioniert die klassische ökonomische Theorie bei der Eisenbahn ausgesprochen schlecht.

Nicht nur hat die Deutsche Bahn im Schienenfernverkehr de facto ein Monopol. Sie kann auch ihre Leistungen kaum in verschiedenen Qualitätsklassen anbieten. Der Unterschied zwischen der 1. und der 2. Klasse ist zwar nicht unerheblich, tut aber eben nichts an der Fahrzeit. Und die Idee, verschiedene Unternehmen würden konkurrierende Schnellfahrstrecken bauen und auf diese Weise einen Wettbewerb etablieren, an dessen Ende ein Marktgleichgewicht steht, ist schlicht absurd.

Aus der Kundenperspektive wird es noch einmal komplizierter. Wenn ich eine Transportleistung haben will, kommt es mir nicht auf die Höchstgeschwindigkeit an, sondern auf die Zeit von Tür zu Tür. Da konkurriert nicht der ICE, sondern das Gesamtsystem „öffentlicher Verkehr“ gegen das Auto; und dann wird es richtig kompliziert.

Je näher man der Realität kommt, desto schwieriger wird Optimieren. Und das liegt nicht unbedingt daran, dass die Mathematik schwieriger wäre.

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