Demokratie ist schwer

Christoph Pöppe

Kein Zweifel: Bei der anstehenden Stichwahl zur französischen Staatspräsidentschaft wird alles mit rechten Dingen zugehen. Immerhin ist Frankreich eine lupenreine Demokratie, kein potenzieller Bewerber ist ins Gefängnis gesteckt worden, die Wahlberechtigten haben dank freier Presse ausreichend Gelegenheit, sich eine Meinung zu bilden, müssen im Allgemeinen keinen langen Weg zum Wahllokal auf sich nehmen und haben keinen Anlass, Manipulationen bei der Auszählung zu befürchten. Und dennoch bestehen ernsthafte Zweifel, ob der-/diejenige, die am nächsten Sonntag die meisten Stimmen erhält, auch wirklich von der Mehrheit der Französinnen und Franzosen gewollt ist.

Das geht bereits aus dem Ergebnis des ersten Wahlgangs hervor. Die drei Erstplatzierten Emmanuel Macron (27,8 %), Marine Le Pen (23,2 %) und Jean-Luc Mélenchon (22,0 %) liegen mit ihrem Stimmenanteil sämtlich in den Zwanzigern – himmelweit entfernt von einer irgendwie überzeugenden Mehrheit und ziemlich dicht beieinander. Wenn zum Beispiel der rechtsextreme Éric Zemmour nicht angetreten wäre, dann wäre seinen Anhängern wenig anderes übrig geblieben, als Le Pen zu wählen, wodurch diese auf den ersten Platz gerutscht wäre. Wenn es andererseits Mélenchon gelungen wäre, die Stimmen für die vier anderen linken Kandidaten Philippe Poutou (0,77 %), Nathalie Arthaud (0,56 %), Anne Hidalgo (1,75 %) und Fabien Roussel (2,28 %) auf sich zu vereinen, hätte er Le Pen aus der Stichwahl verdrängt und vielleicht sogar Macron überholt.

Mit anderen Worten: Wer für die nächsten fünf Jahre den Élysée-Palast bewohnen wird, hängt wesentlich davon ab, inwieweit es Macrons Konkurrentinnen und Konkurrenten gelungen ist – oder eben nicht –, sich zusammenzuraufen. Und selbst wenn es – was zu erwarten ist – Macron wird, muss er damit leben, dass zwei Drittel seiner Landsleute ihn eigentlich nicht wollten. Oder?

Stimmt auch nicht. Der Wille des wählenden Menschen ist viel komplexer, als er das mit dem Kreuzchen auf dem Stimmzettel ausdrücken kann. Mein Wunschkandidat ist A; mit B wäre ich einigermaßen zufrieden, C finde ich weder gut noch schlecht, und D halte ich für eine absolute Katastrophe. So oder so ähnlich denken meine Mitmenschen auch, allerdings ist die Reihenfolge im Allgemeinen jedesmal eine andere. Na gut; dann fragen wir die Leute halt nicht nur nach ihrem Lieblingskandidaten, sondern bitten sie, alle aufzuzählen, erst den Wunschkandidaten, dann den mit der zweiten Präferenz, und so weiter bis zum letzten, den man, je nach Temperament, unter allen Umständen vermeiden möchte oder auch nur für unbedeutend hält. Bleiben wir bei dem Beispiel mit den vier Kandidaten; dann gibt es nur 24 mögliche Reihenfolgen. Wir zählen aus, wie häufig jede Reihenfolge angekreuzt worden ist; das gibt 24 Zahlen. Jetzt brauchen wir nur noch eine Funktion, die aus diesen 24 Werten den Kandidaten oder allgemeiner die Rangfolge errechnet, die am ehesten dem Wählerwillen entspricht, die „kollektive Rangfolge“.

An Funktionen herrscht kein Mangel – im Gegenteil. Die Mathematik stellt so ziemlich alles bereit, was das Herz begehrt. Das Problem besteht eher darin, das unübersichtliche Sortiment durch geeignete Bedingungen an unsere Funktion einzugrenzen. Erstens muss diese für alle, auch die seltsamsten, Wahlergebnisse eine Antwort liefern; das ist mit dem Wort „Funktion“ gemeint. Für die nächste Bedingung muss man einen Moment länger nachdenken; aber dann stellt sich heraus, dass sie unentbehrlich ist, um gewisse paradoxe Ergebnisse auszuschließen. Es ist die „Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen“. Wenn man wissen will, ob in der kollektiven Rangfolge A vor B steht, darf es nicht darauf ankommen, wie die Abstimmenden die übrigen Kandidaten einordnen. Wenn insbesondere alle A für besser halten als B, dann muss sich das auch in der kollektiven Rangfolge widerspiegeln.

Jetzt kommt die große Enttäuschung: Eine Funktion, die alle diese Bedingungen erfüllt, gibt es nicht. Das ist das berüchtigte Arrow-Theorem, für das sein Schöpfer Kenneth Arrow (1921–2017) 1972 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. Genauer: Die einzigen Funktionen, die die oben genannten Bedingungen erfüllen, sind diejenigen, die alle Ergebnisse auf eine einzige Reihenfolge abbilden – die allerdings mindestens eine Stimme erhalten haben muss. Anders ausgedrückt: Ein einziger Wähler bestimmt das Endergebnis – was man allgemein als Diktatur bezeichnet. Es leuchtet unmittelbar ein, dass man das Verbot der Diktatur unter die Bedingungen aufnehmen muss.

Das Arrow-Theorem ist zweifellos eine große Enttäuschung. Wie kommt man darüber hinweg? Der Beweis des Theorems ist vielfach überprüft worden; da einen Fehler zu finden ist praktisch aussichtslos. Nur in ein paar trivialen Ausnahmefällen – weniger als drei Alternativen zur Wahl oder weniger als zwei Stimmberechtigte – kommt es nicht zur Geltung. Haben wir uns bei der mathematischen Modellierung ungeschickt angestellt? Na ja – der Wille des Menschen ist ein überaus kompliziertes Gewächs; wir haben ihn auf eine schlichte Rangfolge reduziert, und dabei könnte durchaus etwas Wesentliches verloren gegangen sein.

Nur: Kann es eine getreuere Modellierung des Willens geben? Es ist kaum vorstellbar, wie das gehen sollte. Man denke sich eine große Vollversammlung aller Wahlberechtigten. Jeder kann mit jedem verhandeln, insbesondere dessen Präferenzen erfahren, und daraufhin versuchen, eine Entscheidung zu treffen, die seinen Vorstellungen am nächsten kommt. Das Ganze natürlich ohne Drohungen oder Bestechungen.

Abgesehen davon, dass eine solche Veranstaltung praktisch unmöglich ist, kann man ja versuchen zu modellieren, was dabei herauskäme. Die Idee ist gar nicht so absurd, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Auch die radikalste Verfechterin ökologischer Ideen tut gut daran, nicht die Splitterpartei zu wählen, die ihre Vorstellungen in mustergültiger Weise vertritt; es entspricht ihren Interessen eher, ihr Kreuz bei den Grünen zu machen – und wenn es mit Zähneknirschen ist –, weil sie so wenigstens auf eine verwässerte Realisierung ihrer Vorstellungen hoffen kann. Mit diesen Überlegungen nimmt sie einen Teil der oben genannten fiktiven Verhandlungen im Kopf vorweg.

Zurück von den Idealvorstellungen zur Realität. Gibt es eine bessere Möglichkeit, den Willen der Menschen abzufragen, als die Rangfolge der Kandidaten? Vorschläge gibt es zuhauf.

Ein altehrwürdiges Prinzip verdanken wir dem Marquis de Condorcet (1743–1794). Man lege den Wählern alle denkbaren Paare von Kandidaten vor und bitte sie, sich für jeweils einen aus diesem Paar zu entscheiden. Für jedes Paar werden die Stimmen ausgezählt, und derjenige, der all diese vorweggenommenen Stichwahlen gewinnt, gilt als gewählt. Dieser „Condorcet-Sieger“ hat in der Tat eine äußerst starke Legitimation für sich. Der Ärger ist nur: Es gibt ihn nicht immer.

Ein weiterer Vorschlag mit dem leicht irreführenden Namen „Wahl durch Zustimmung“ („approval voting“) wirkt zunächst merkwürdig: Man darf auf dem Stimmzettel beliebig viele Kandidaten ankreuzen – wobei man sich zweckmäßig auf diejenigen beschränkt, die man wenigstens irgendwie für akzeptabel hält. Kumulieren – diese baden-württembergische Spezialität, bei der man einem Kandidaten mehr als eine Stimme geben darf – ist nicht erlaubt. Gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Das klingt so, als sollte der Wählerwille noch ungenauer abgefragt werden als mit der Rangfolge. Es stellt sich jedoch heraus, dass dieses Verfahren stets einen Condorcet-Sieger findet, wenn es ihn gibt; und vor allem bietet es im Gegensatz zu den üblichen Verfahren keinen Anreiz, entgegen der eigenen Überzeugung zu wählen. Das Problem hat man gerade bei klassischen Wahlen fast immer, wenn nämlich die einzige Möglichkeit, den Katastrophen-Kandidaten zu verhindern, darin besteht, seinen eigentlich ungeliebten, aber chancenreicheren Konkurrenten zu wählen.

Ein dritter Vorschlag, ebenfalls von Condorcet, hat einen besonderen Reiz für idealistisch gesinnte Menschen. Man nimmt an, es gebe eine „wahre“ Rangfolge, und die Äußerungen der Wähler seien deren – möglicherweise unvollkommener – Versuch, diese Wahrheit zu finden. Die Wahl selbst ist dann so etwas wie die Zusammenfassung zahlreicher Messungen; jede für sich ist fehlerhaft, aber die einzelnen Fehler mitteln sich aus. Nach Condorcet genügt es, wenn jeder Wähler eine Chance von mehr als 50 Prozent hat, die Wahrheit zu erkennen, und diese Erkenntnis ohne jede taktische Überlegung in seiner Stimmabgabe und unabhängig von den anderen zum Ausdruck bringt. Wieder fragt man nach der Präferenz für alle Paare von Kandidaten. Als gewählt gilt diejenige Rangfolge, die im Sinne der Statistik die „wahrscheinlichste“ ist unter der Voraussetzung, dass das konkrete Messergebnis, sprich Abstimmungsergebnis, vorliegt. Leider hat das Verfahren einen schwerwiegenden Nachteil: Es ist zu kompliziert und undurchsichtig und gibt deswegen Anlass zu Misstrauen.

Als vor 20 Jahren ebenfalls eine Präsidentschaftswahl in Frankreich anstand, beschrieb der Pariser Wirtschaftswissenschaftler Michel Balinski in einem Artikel detailliert die Vorzüge und Nachteile diverser Wahlsysteme. Die deutsche Version dieses Artikels ist – ohne Tabellen, aber immerhin – noch im Internet verfügbar.

Was sagt uns das für andere Länder? Na ja – in den USA machen sie denselben Fehler wie in Frankreich, mit dem Unterschied, dass der erste Wahlgang nicht offiziell, sondern innerhalb der beiden großen Parteien stattfindet. Deswegen haben die Amerikanerinnen und Amerikaner im entscheidenden Moment eben so häufig nur die Wahl zwischen zwei Übeln.

Und die Deutschen? Da ist es alles viel indirekter und entsprechend komplizierter. Wir wählen ja nur die Abgeordneten, die dann stellvertretend für uns – manchmal äußerst mühsam – verhandeln, wer am Ende das Sagen hat, und zu welchen Bedingungen. Da kann die Mathematik höchstens dafür sorgen, dass die verschiedenen Ausprägungen des Volkswillens sich proportional in der Zusammensetzung des Bundestags wiederfinden. Und schon das ist schwierig, wegen des Zweistimmenprinzips und des Föderalismus. Aber das ist eine andere Geschichte.

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