Mathematik im Finanzministerium

Christoph Pöppe

Der kleine Assi Christoph Pöppe betreut den Studenten Lothar Binding im Numerik-Seminar, beim Deuflhard. Es geht darum, – zum Beispiel – für mehrere Sorten Kaffeebohnen das kostengünstigste Mischungsverhältnis zu bestimmen unter der Bedingung, dass – zum Beispiel – gewisse Grenzwerte für den Schadstoffgehalt nicht überschritten werden. Für dieses Optimierungsproblem gibt es das so genannte Simplex-Verfahren, das findet in erträglicher Rechenzeit die – im Wesentlichen eindeutig bestimmte – Lösung. Nach dieser Lösung kann der Kaffeeröster verfahren und wird damit glücklich, zumindest was seinen wirtschaftlichen Erfolg betrifft. Ein klassisches Beispiel dafür, wie Mathematik zur Lösung eines Problems aus der echten Welt verhilft.

Das ist lange her. Als wir uns fast 40 Jahre später wieder zu einem ausführlichen Gespräch treffen, gibt es allerlei zu erzählen. Lothar Binding hat politische Karriere gemacht; von 1998 bis 2021 saß er, von der SPD nominiert, im Bundestag und hatte dort vor allem im Finanzausschuss eine führende Rolle als finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion inne. Insbesondere hatte er den Beamten, die unter den Finanzministern Peer Steinbrück, Wolfgang Schäuble und Olaf Scholz Gesetzesvorlagen erarbeiteten, auf die Finger zu schauen.

Eine gute Gelegenheit für Lothar, seine mathematischen Vorkenntnisse in der Politik einzusetzen – sollte man meinen. Immerhin geht es bei den Bundesfinanzen um jede Menge Zahlen, und wichtiger noch: Es soll „Gerechtigkeit gegen jedermann“ geübt werden, schwören die Regierungsmitglieder beim Amtseid. Von der Gerechtigkeit ist es nicht weit zum Gleichgewicht, wie es die Physiker verstehen, und von dort nicht weit zu einem Optimum im mathematischen Sinne; häufig genug kann man das eine in das andere umrechnen. So ist die Idee, eine gerechte Beteiligung am Steueraufkommen als Lösung eines Optimierungsproblems auszurechnen, keineswegs abwegig. Kein Geringerer als der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz hat diese Vorstellung ausgearbeitet: Rechnen wir doch zu jedem politischen Streit die Lösung des Problems aus. „Calculemus!“ Aus Leibnizens Sicht ist das nur konsequent. Immerhin hat er mit der Infinitesimalrechnung eines der bedeutendsten Werkzeuge zur Lösung von Optimierungsproblemen erfunden.

Heute neigen wir dazu, diese Idee des großen Leibniz müde zu belächeln. Natürlich kann man eine Zielfunktion aufstellen, die das Erstrebenswerte auf irgendeine Weise mathematisch erfasst, und dann ein Optimum dieser Funktion unter Nebenbedingungen bestimmen. Das würde zwar deutlich komplizierter als beim Kaffeemischen, aber nichts, was die Mathematik grundsätzlich überfordern würde. Das Hauptproblem wäre, dass sich die Leute dann nicht über irgendwelche Steuersätze, sondern über die Definition der Zielfunktion in die Wolle kriegen, womit der Streit nur verlagert würde.

Selbst das wäre allerdings schon ein Gewinn, sagt Lothar Binding. In manchen Streitfragen würde eine mathematische Darstellung zumindest helfen, innere Widersprüche in Gedankengängen aufzudecken. Und selbst bei einem unauflöslichen Dissens träten wenigstens die Konfliktlinien klarer zu Tage.

Die Irrationalität des gemeinen Wirtschaftssubjekts

Wie viel Mathematik wird nun im Finanzministerium betrieben? Es ist ernüchternd wenig.

Ja, man muss eine Prognose über zukünftige Steuereinnahmen („Steuerschätzung“) erarbeiten. Dazu muss man Daten aus der Vergangenheit in die Zukunft extrapolieren und gegenwärtige Ereignisse mitberücksichtigen, die in den alten Daten noch nicht enthalten sind. Das erfordert, neben einem gewissen Maß an Mathematik, Annahmen über das wirtschaftliche Verhalten der Menschen. Aber wenn man im Finanzausschuss nach solchen Annahmen und den verwendeten Algorithmen fragt, bekommt man in der Regel keine nachprüfbare Antwort, so Bindings Erfahrung. Natürlich hat er nach den Gründen gefragt. Die Antwort: Einerseits reicht häufig die Zeit nicht, um diese eher technischen Dinge zu diskutieren. Andererseits wollen sich die Ersteller der Prognosen, seien sie aus dem Ministerium oder externe Fachleute, nicht in die Karten schauen lassen. Die Simulationsmodelle sind eine Art Betriebsgeheimnis. Wenn sich hinterher die Prognose als falsch erweist – also häufig –, will man sich nicht dem Vorwurf aussetzen, man habe durch tendenziöse Annahmen die Prognose zu politischen Zwecken manipuliert.

Davon abgesehen ist die Aufgabe, das menschliche Verhalten in Formeln zu fassen, tatsächlich alles andere als einfach. Die klassische Wirtschaftswissenschaft glaubte, der Mensch habe eine persönliche Zielfunktion („Nutzenfunktion“), suche die zu optimieren und könne die zugehörigen Fakten im Wesentlichen richtig („rational“) bewerten. Aus derartigen Annahmen konnte man sogar allerlei Schlüsse ziehen. Die moderne Wirtschaftswissenschaft findet eine Stelle nach der anderen, wo das Bild vom rationalen Nutzenmaximierer falsch ist. Gleichwohl: Man kann das Verhalten des Menschen mathematisch beschreiben. Nicht mit der Unerbittlichkeit des Gravitationsgesetzes und meistens nur im Durchschnitt, aber immerhin.

Das ist ziemlich unmittelbar relevant für die politische Arbeit, vor allem wenn es nicht so rational zugeht. Die Menschen irren sich systematisch in der Einschätzung kleiner Wahrscheinlichkeiten. Es gibt nicht wenige Leute, die sowohl rauchen als auch Lotterie spielen. Das heißt: Sie schätzen die Wahrscheinlichkeit von 1 zu 14 Millionen für einen Hauptgewinn so groß ein, dass es lohnt, einen Euro darauf zu setzen, halten aber die zehntausendfach höhere Wahrscheinlichkeit von 1 zu 200, elendiglich an Lungenkrebs zu sterben, für so gering, dass es nicht lohnt, dafür das Rauchen aufzugeben. Rational ist das nicht. Ist es Aufgabe der Politik, der Rationalität des Menschen aufzuhelfen? Ich glaube ja, auch wenn die dahinter stehende Grundhaltung etwas Bevormundendes an sich hat: „Ich, die Regierung, weiß es besser als du, kleine Einzelperson, deswegen zwinge ich dich nicht gerade zu deinem Glück, aber schubse dich in die richtige Richtung.“

Lothar, einst selbst starker Raucher, sieht das ebenso und setzt sich für entsprechende Maßnahmen ein, zum Beispiel eine erhebliche Erhöhung der Tabaksteuer. Was passiert? Die Erhöhung findet zwar statt, aber auf Betreiben der Tabakindustrie in kleinen Raten. Der Schreck des Rauchers über die plötzlich gestiegenen Kosten bleibt aus und damit das Nachdenken darüber, ob Nichtrauchen unter Einbeziehung aller Aspekte wie des Zigarettenpreises vielleicht doch die bessere Idee ist. Man gewöhnt sich allmählich an die höheren Preise – eine der zahlreichen Irrationalitäten des menschlichen Verhaltens. Das Gegenbeispiel ist die Steuer auf Alkopops, die relativ plötzlich einen Effekt in der Größenordnung des Taschengeldes für Jugendliche hatte. In der Folge brach der Umsatz dieser alkoholhaltigen Süßgetränke ein.

Die Sache mit der schwäbischen Hausfrau

Wird die Mathematik denn wenigstens eingesetzt, um die Fragen um das ganz große Geld zu klären? Maastricht-Kriterium, Obergrenze der Neuverschuldung, schwarze Null? Nicht wirklich. Man kann sich allenfalls sehr abstrakte Gedanken machen. Staatsschulden gleich null ist eine schlechte Idee. Der Staat muss ja für die Zukunft in Gebäude, Infrastruktur und so etwas investieren und kann das nicht alles aus Steuern bezahlen. Vor allem profitieren nicht die Heutigen, sondern insbesondere auch die Zukünftigen von diesen Investitionen und sollten sie dann auch mitbezahlen. Staatsschulden gleich unendlich ist offensichtlich auch eine schlechte Idee, aus den entgegengesetzten Gründen: Wir sollen nicht auf Kosten unserer Kinder leben. Dann sagt uns der Zwischenwertsatz aus der Analysis, dass es irgendwo dazwischen eine „richtige“ oder „optimale“ Schuldenquote gibt. Das ist abstrakt richtig, nutzt aber nichts. Die Zahlen 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Staatsverschuldung und 3 Prozent des BIP für das jährliche Haushaltsdefizit wurden nicht errechnet, sondern ausgehandelt (Maastrichter Vertrag) – auf deutscher Seite mit der Gewissheit, dass man mit der Einhaltung dieser Grenzen keine Probleme haben werde. Welch ein Irrtum!

Ein Ansatz von mathematischer Modellierung steckt immerhin in dem Begriff der Schuldentragfähigkeit. Staatsschulden gelten als tragbar, wenn die zugehörigen Zinszahlungen den Staatshaushalt nicht übermäßig belasten. Wie hoch diese Belastung ist, kann man zwar ausrechnen und eine Vorstellung davon entwickeln, was als übermäßig gelten soll; uns Deutschen geht es dabei im Moment gut wegen der niedrigen Zinsen. Aber in diesen Zahlen stecken abermals Annahmen über das Verhalten der Menschen. Denn der Zinssatz ist ein Ausdruck für das Ausfallrisiko, das die Geldgeber sehen. Dass Deutschland derzeit so niedrige oder gar negative Zinsen zahlt, liegt an der Erwartung, dass die Deutschen in 20 Jahren, wenn die Staatsanleihe fällig wird, immer noch so fleißig arbeiten, so viel Steuern zahlen und so geordnet verwaltet werden, dass der Staat liquide bleibt. Wie will man das ausrechnen?

Kann man die Mathematik denn wenigstens einsetzen, um großem Betrug auf die Schliche zu kommen? Nicht wirklich. Die kriminellen Cum-Ex-Geschäfte lebten davon, dass rund um den Dividendenstichtag große Mengen von Aktien über mehrere Zwischenstationen verkauft und damit die Finanzämter getäuscht wurden. Eigentlich wird über derartige Verkäufe Buch geführt, und die milliardenschweren Cum-Ex-Geschäfte hätten sich in der Statistik als Ausreißer bemerkbar machen müssen. Haben sie aber nicht. Gemessen an den weltweiten Finanzströmen sind selbst diese Transaktionen offenbar Peanuts.

Die Formel für den aktuellen Rentenwert

Und wenn man sich tatsächlich einmal darauf einigt, die Mathematik im Interesse der allgemeinen Gerechtigkeit zu Rate zu ziehen? So geschehen bei der Berechnung des „aktuellen Rentenwerts“. Das ist sozusagen das Hauptventil, durch welches das viele Geld für alle Rentnerinnen und Rentner strömt. Wenn man das auch nur ein bisschen auf- oder zudreht, hat das schon einen erheblichen Effekt auf die Staatsfinanzen. Politisch entscheidet der aktuelle Rentenwert darüber, wie der erwirtschaftete Wohlstand zwischen der Gesamtheit der Aktiven und der Gesamtheit der Ruheständler aufgeteilt wird – ein Thema, über das man lange und unfruchtbare Diskussionen führen kann. Da können sich die Parteien sogar darauf verständigen, das nicht jedes Jahr aufs neue zu verhandeln, sondern sich auf eine Berechnungsformel zu einigen, als eine Art Versuch der Wahrheitsfindung. Soweit ist das schon fast Leibniz.

Aber dann lassen vor allem die Juristen in den Ministerien ihrer Abneigung gegen mathematische Begrifflichkeiten freien Lauf. Gesetze müssen als Texte formuliert werden, und Formeln haben da nichts zu suchen. Schauen Sie sich auf der offiziellen Website des Bundesjustizministeriums Paragraf 68 des Sechsten Buchs des Sozialgesetzbuchs an. Wenn er nicht echt wäre, könnte man ihn glatt für Satire halten. Hier ist Absatz 2:

Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer sind die durch das Statistische Bundesamt ermittelten Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer ohne Personen in Arbeitsgelegenheiten mit Entschädigungen für Mehraufwendungen jeweils nach der Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Der Faktor für die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer wird ermittelt, indem deren Wert für das vergangene Kalenderjahr durch den Wert für das vorvergangene Kalenderjahr geteilt wird. Dabei wird der Wert für das vorvergangene Kalenderjahr an die Entwicklung der Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung angepasst, indem er mit dem Faktor vervielfältigt wird, der sich aus dem Verhältnis der Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer im vorvergangenen Kalenderjahr gegenüber dem dritten zurückliegenden Kalenderjahr und der Veränderung der aus der Versichertenstatistik der Deutschen Rentenversicherung Bund ermittelten beitragspflichtigen Bruttolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer ohne Beamte einschließlich der Bezieher von Arbeitslosengeld im vorvergangenen Kalenderjahr gegenüber dem dritten zurückliegenden Kalenderjahr ergibt.

Nein, ich verstehe es auch nicht. In diesem Fall ist sogar etwas Ungewöhnliches passiert. Anscheinend haben die Juristen selbst bemerkt, dass die Textformulierung unbrauchbar ist, und in Absatz 5 dasselbe noch einmal in – kaum zu glauben – einer Formel ausgedrückt. Aber tiefgestellte Zeichen, Bruchstriche und Ähnliches konnten sie dann doch nicht übers Herz bringen, mit dem Effekt, dass selbst die Formel noch fast unleserlich ist. Ich habe mir erlaubt, sie in der üblichen Notation auszudrücken: \[\eqalign{AR_t &= AR_{t-1} \times {BE_{t-1} \over BE_{t-2}} \times {100-\text{AVA}_{2012}-\text{RVB}_{t-1} \over 100 -\text{AVA}_{2012}-\text{RVB}_{t-2}} \cr & \times\left( \left( 1-{RQ_{t-1} \over RQ_{t-2} }\right)\times \alpha +1\right)}\] Wenn es Sie interessiert: Die Bedeutungen der einzelnen Bezeichnungen stehen im Gesetzestext. Dabei fällt auf, dass sich gewisse Werte speziell auf das Jahr 2012 beziehen und nicht, wie in den Erläuterungen, auf das jeweils vergangene Jahr \(t-1\) und dass zwar im Text häufig vom drittletzten Jahr die Rede ist – das wäre dann \(t-3\) –, dass dieses aber in der Formel nicht vorkommt. Da müssen die Gesetzesverfasser noch ordentlich üben.

Andererseits sieht man an der Formel jetzt endlich, dass das Gesetz das Verhältnis der Werte aus den Jahren \(t-1\) und \(t-2\) als Näherung für das Verhältnis der Werte aus \(t\) und \(t-1\) verwendet (klar, die Werte für das aktuelle Jahr \(t\) gibt‘s ja noch nicht), dass nicht nur die Entwicklung der Löhne (BE) in die Berechnung eingeht, sondern auch die der Beitragssätze (RVB) und das Verhältnis RQ von Rentnern zu Beitragszahlern, letzteres aber nur gedämpft, mit einem Faktor von \(\alpha=1/4\). Und jetzt erst hat man Gelegenheit, darüber nachzudenken, inwieweit die Formel sinnvoll, gerecht und bezahlbar ist.

Mathematik könnte zur politischen Diskussion eine Menge beitragen – wenn man sich ernsthaft auf sie einlassen würde.

The post Mathematik im Finanzministerium originally appeared on the HLFF SciLogs blog.