Die widerspenstige Navier-Stokes-Gleichung

Christoph Pöppe

Sie ist eines der Standard-Arbeitstiere der mathematischen Physik, sie beschreibt ein Allerweltsphänomen – die Bewegung der Flüssigkeiten und Gase –, sie ist seit fast 200 Jahren bekannt, und dennoch sind grundsätzliche Fragen zu ihrer Lösbarkeit noch nicht beantwortet. Und neuerdings stellt sich heraus, dass das Problem noch um etliches schwieriger ist, als es bislang aussah.

Wer ein Preisausschreiben veranstaltet, tut gut daran, die zu lösende Aufgabe möglichst präzise zu formulieren, damit es hinterher bei der Auszahlung keinen Ärger gibt. An dieses Prinzip hat sich auch das Clay Mathematics Institute gehalten, als es aus Anlass der Jahrtausendwende je eine Million Dollar auf die Lösung von sieben harten mathematischen Problemen aussetzte. Formulierungen wie „Beweise die Vermutung von Riemann“ oder „… von Poincaré“ lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig.

Demnach wäre die Aufgabe für eines der brennendsten Probleme der angewandten Mathematik etwa so zu stellen: „Beweise, dass das Anfangswertproblem der Navier-Stokes-Gleichung für alle Zeiten eine eindeutige Lösung hat.“ Immerhin kommt die Gleichung aus der Physik. Wenn man ein flüssiges oder gasförmiges Medium zum Zeitpunkt t = 0 in einen definierten Zustand versetzt und dann der Natur ihren Lauf lässt, dann erwartet man erstens, dass das Zeug sich nicht nach einer Weile in ein Schwarzes Loch oder so etwas verwandelt (Existenz der Lösung), und zweitens, dass jedesmal, wenn man denselben Anfangszustand präpariert, auch dasselbe passiert (Eindeutigkeit).

Leider haben sich an der Lösung dieser Aufgabe schon sehr viele Leute vergeblich versucht. Es war zu erwarten, dass das Clay Institute bei dieser so gestellten Aufgabe auf seiner Million sitzen bleiben würde. Deswegen wurde die Fragestellung aufgeweicht; es genügt, eine aus einem Sortiment von vier Aufgaben zu beweisen.

Warum ist das so schwierig? Die Gleichung selbst sieht auf den ersten Blick nicht besonders beängstigend aus: \[\eqalign {\partial_t u &= \Delta u\, – \, u \cdot\! \nabla u \,- \nabla p +f \, ,\cr {\rm div }\, u &=0}\] Na gut, da sind schon einige Vereinfachungen eingegangen: Diese Form beschreibt den Spezialfall eines inkompressiblen Mediums, und die Einheiten sind so gewählt worden, dass alle physikalischen Konstanten gleich 1 sind, so dass wir sie nicht mitschleppen müssen. Aber die wesentlichen Schwierigkeiten bleiben bei dieser Vereinfachung erhalten.

Diese merkwürdigen Dreiecke stehen für Ableitungen nach dem Ort, das stehende \(\nabla\) für die erste Ableitung, das liegende \(\Delta\) für die Summe der zweiten Ableitungen. Die Variable u (x, t ) beschreibt die Geschwindigkeit des Mediums am Ort x zur Zeit t, was ein Vektor mit drei Komponenten ist. Die Geschwindigkeit verändert sich mit der Zeit \( (\partial_t u)\) durch die Einflüsse, die auf der rechten Seite der Gleichung stehen:

• erstens durch die innere Reibung des Mediums \((\Delta u)\), die dafür sorgt, dass sich Geschwindigkeitsunterschiede zwischen nahe benachbarten Stellen ausgleichen;

• zweitens durch die Massenträgheit des Mediums \((u \cdot\! \nabla u)\). Wenn der Stoff, sagen wir, von links nach rechts fließt, dann herrscht demnächst am Punkt x die Geschwindigkeit u, die gerade eben noch ein Stückchen links von x geherrscht hat, und das ändert sich mit der Strömungsgeschwindigkeit u. Deswegen taucht u in diesem Term zweimal auf, und das wiederum ist der Grund dafür, dass die Gleichung nichtlinear ist. Wenn man alle Geschwindigkeiten verdoppelt, dann wird der Trägheitsterm nicht verdoppelt, sondern vervierfacht, und alles ist ganz anders. Eine Lösung aus einer Summe von Elementarlösungen zusammensetzen funktioniert nicht, und ein paar andere probate Lösungstechniken ebenso wenig.

Es kommt noch schlimmer: Stellen Sie sich vor, die nach rechts gerichtete Geschwindigkeit nimmt von rechts nach links zu. Je weiter links, desto schneller fließt das Medium, mit dem Effekt, dass die Welle sich sozusagen aufsteilt. Kinetische Energie konzentriert sich in der Mitte. Dasselbe Szenario verschärft: Diese Wellenfront läuft aus allen Raumrichtungen konzentrisch auf den Nullpunkt zu, dort nimmt die kinetische Energie ein Maximum an, und zwar schneller, als die Reibungseffekte dieses Maximum einebnen können. Und wenn sich Energie in einem einzigen Punkt konzentriert, dann ist das eine Singularität, also fast schon so etwas wie ein Schwarzes Loch.

• Die weiteren Effekte durch den Druck p und eine äußere Kraft f sind dagegen vergleichsweise harmlos. Sie machen keine Singularität und verhindern auch keine. Man muss allerdings aufpassen: Wenn man durch eine äußere Kraft dem System Energie in unbegrenzter Menge hinzufügt, darf man sich nicht wundern, wenn es irgendwann knallt. Unter diesen Umständen die Existenz einer Lösung für alle Zeiten zu vermuten wäre abwegig. Also fügt man die Voraussetzung hinzu, dass die Gesamtmenge an Energie begrenzt bleibt.

Interessanterweise gibt es im Rahmen des mathematischen Modells eine Formel für die Gesamtenergie des Systems: \[\int |u|^2 dx \] Aber das ist nur die kinetische Energie! Was davon durch Reibungseffekte in Wärme umgewandelt wird, fällt aus dem Modell heraus. Also kann, solange keine äußere Kraft wirkt, die kinetische Energie höchstens weniger werden. Und wenn sie gleich null ist und keine äußere Kraft wirkt: Dann ruht der See bis in alle Ewigkeit, und wir haben unseren Existenz- und Eindeutigkeitssatz.

Einen Existenzsatz gibt es sogar – wenn man sich darauf einlässt, den Begriff der Lösung aufzuweichen. Eigentlich muss die Lösung u ja eine Funktion sein, die einmal nach der Zeit und zweimal nach dem Ort differenzierbar ist – sonst könnte man sie noch nicht einmal in die Gleichung einsetzen, geschweige denn feststellen, ob die Gleichung erfüllt ist. Aber das ist zu viel verlangt, wenn man, wie üblich, nur eine angenäherte Lösung hat und die nachbessern will mit dem Ziel, dass die Folge der Nachbesserungen einen Grenzwert hat und der die Gleichung löst.

Stattdessen verlegt man sich auf „schwache Lösungen“ in Form „verallgemeinerter Funktionen“. Diese Objekte sind schwer zu fassen. Man kann nicht unbedingt sagen, welchen Wert eine verallgemeinerte Funktion in einem bestimmten Punkt hat. Man kann sie sich allerdings durch gewisse Brillen („Testfunktionen“) anschauen. Alle Brillen sind irgendwie unscharf; aber es gibt solche, die sich auf einen bestimmten Punkt fokussieren. Mit ihnen sieht man, was diese wolkig definierte Funktion in der Nähe dieses speziellen Punktes anstellt, und zwar beliebig scharf, aber nicht unendlich scharf. (Es gibt ein unendliches Sortiment von immer schärferen Brillen, die aber jede nur endlich scharf sind.) Insbesondere kann man nicht sehen, ob die Funktion an dieser Stelle differenzierbar ist. Denn dafür kommt es ja auf einen Grenzwert an, also das Verhalten in einer Umgebung des Punktes, die beliebig klein werden darf – so klein, dass es die Schärfe jeder Brille überfordert, die man gerade auf der Nase hat. (Ja, das ist alles sehr spitzfindig…)

Das Schöne ist: Die wolkige Funktion muss auch gar nicht differenzierbar sein. Wir verlangen nicht mehr, dass die Gleichung erfüllt ist, sondern nur noch, dass es mit jeder Brille betrachtet so aussieht. Die Brillen sind nämlich so raffiniert gebaut, dass sie einem auch für eine undifferenzierbare Funktion anzeigen, wie genau sie die Gleichung erfüllt. Also bastelt man sich eine Folge wolkiger Funktionen zurecht, die die Gleichung immer genauer erfüllen, weist nach, dass eine Teilfolge dieser Folge einen Grenzwert hat, und hat seinen Existenzsatz. (Ich habe eine Menge schwieriger Einzelheiten weggelassen; aber das ist die Grundidee.)

Diese Methode hat Jean Leray (1906–1998) entwickelt und 1934 veröffentlicht. Mittlerweile hat man sie noch verfeinert und vor allem diverse Sortimente von Brillen entwickelt. Aber zum letzten Schritt: zu beweisen, dass die so nachgewiesene wolkige Lösung sogar eine echte ist („Regularität“), hat es bisher nicht gereicht.

Schlimmer noch: In letzter Zeit häufen sich die Indizien, dass die Qualität der Brillen immer noch nicht ausreicht. Wenn es nämlich zu ein und derselben Anfangssituation zwei verschiedene wolkige Funktionen gibt, die beide unter jeder Brille wie Lösungen aussehen, muss ja mindestens eine von ihnen falsch sein. So denkt jedenfalls der Normalmensch, der immer noch an die eindeutige Lösbarkeit glaubt.

Nun haben allerdings Tristan Buckmaster und Vlad Vicol ein ganzes Sortiment von schwachen Lösungen gefunden, mit dem man sogar eine Art Spiel treiben kann: Schreibe vor, auf welche Weise die anfängliche kinetische Gesamtenergie des Systems abnehmen soll, und ich finde eine schwache Lösung, die genau dieser Vorschrift folgt. Neuerdings haben Dallas Albritton, Elia Brué und Maria Colombo ein noch etwas konkreteres Ergebnis erzielt. Sie bastelten, allerdings unter Einsatz einer äußeren Kraft, eine ziemlich konkrete schwache Lösung zurecht, die sich in die eine oder die andere Richtung entwickeln kann.

Ist es wirklich die mangelhafte Qualität der Brillen? Oder ist die Navier-Stokes-Gleichung auf irgendeine verborgene Weise unvollständig? Immerhin lebt sie, schon weil sie eine Differenzialgleichung ist, von der Vorstellung, das Medium sei ein Kontinuum, es gebe an jedem Punkt des dreidimensionalen Raums eine Geschwindigkeit und man könne sinnvoll von Änderungen der Geschwindigkeit über beliebig kleine Abstände reden – nichts anderes sind Ableitungen. Die Herren Claude Navier (1785–1836) und George Gabriel Stokes (1819–1903) mussten sich darüber noch keine ernsthaften Gedanken machen, als sie ihre Gleichung herleiteten. Aber wir Heutigen wissen, dass das (flüssige oder gasförmige) Medium aus einzelnen Molekülen besteht. Jedes von ihnen hat zwar eine Geschwindigkeit; aber daraus eine Funktion zu machen, die in jedem Punkt des Raums definiert ist, erfordert gewisse Kunstgriffe. Vielleicht sind dabei Bedingungen untergegangen, die man über die Differenzialgleichung hinaus an eine Lösung stellen muss?

Und ganz praktisch: Man braucht für technische Zwecke Informationen über das Verhalten einer Flüssigkeit und berechnet dafür mit dem Computer die entsprechende Lösung der Navier-Stokes-Gleichung. Das ist immer nur eine angenäherte Lösung – etwas Besseres kann man jedenfalls im Moment nicht rechnen –, und sie ist eindeutig! So sind die Computerverfahren gebaut: Steckt man dieselben Anfangsbedingungen hinein, kommt jedesmal dasselbe Ergebnis heraus.

Hm. Eigentlich glauben ja alle, dass es die eine richtige Lösung gibt. Aber woher wissen wir, dass unser Computerprogramm sie findet (wenigstens näherungsweise) und nicht eine von den vielen, die wir mit unseren Brillen noch akzeptieren? Na gut, man gleicht das Errechnete mit dem Experiment in der Natur ab, und bisher kommt das hin. Aber es bleiben Zweifel.

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