Wie natürlich sind die komplexen Zahlen?

Christoph Pöppe

Mit der Bezeichnung „natürliche Zahlen“ haben die wenigsten Leute Probleme. Wir kennen sie schon von Kindesbeinen an, wir nutzen sie täglich, und im Gegensatz zu den „krummen“ Zahlen, mit denen man vor allem in Technik und Wissenschaft umgeht, machen ihre Eigenschaften uns kein besonderes Kopfzerbrechen.

Aber kommen die natürlichen Zahlen in der Natur vor? Natürlich nicht. Oder sind Sie jemals im Wald einer Fünf begegnet?

Was man in der (belebten oder auch unbelebten) Natur findet, sind keine Fünfen, sondern vielleicht fünf Bäume, fünf Menschen, fünf Schafe oder auch fünf Kiesel. Als die Menschen noch nicht richtig zählen konnten, legten sie für jedes Schaf, das sie auf die Weide ließen, einen Kiesel auf einen Haufen und nahmen abends für jedes Schaf, das in den Stall zurückkehrte, einen Kiesel weg. So konnten sie zumindest bemerken, ob ihnen über den Tag ein Schaf abhandengekommen war.

Wir empfinden die natürlichen Zahlen als, na ja, „natürlich“ eben, weil wir sie als Mittel verwenden, unsere Umwelt einzuordnen und damit begreiflich zu machen, und weil dieses Mittel sich uns unmittelbar und ohne nennenswerte Alternative aufdrängt. Woher sollte auch diese Alternative kommen, wenn uns Zahlen im Allgemeinen und natürliche Zahlen im Besonderen in unserer Kultur auf Schritt und Tritt begegnen?

Na gut. Wie sieht es unter diesem Aspekt mit den weniger natürlichen Zahlen aus?

Nicht ganz so natürlich: rationale Zahlen

Mit den Brüchen (genauer: natürliche Zahl im Zähler, natürliche Zahl im Nenner) haben wir keine größeren Schwierigkeiten. Wir begegnen ihnen in einem „natürlichen“ Kontext beim Kuchenteilen, und sie finden ohne weiteres ihren Platz auf dem Zahlenstrahl zwischen den natürlichen Kollegen. Die Rechenregeln sind zwar gewöhnungsbedürftig, aber man kommt mit ihnen zurecht.

Das sahen schon die Ägypter der Antike so, auch wenn sie darauf bestanden, Brüche (mit Ausnahme von 2/3) nur als Summen von „Stammbrüchen“ (solchen mit Zähler 1) zu schreiben. Heute erscheint uns dieser Umgang unnötig umständlich, aber das macht nichts: Die schiere Tatsache, dass wir mit diesen Zahlen umgehen können, macht sie uns vertraut und räumt jeden Zweifel an ihrer Existenz (und Legitimität) aus.

Noch weniger natürlich: negative und irrationale Zahlen

Mit den negativen Zahlen ist das schon schwieriger. In der Natur kommen sie jedenfalls noch weniger vor als die natürlichen Zahlen. Es will einem ja auch nicht in den Kopf, dass es von irgendetwas weniger als nichts geben soll. Die mathematisch korrekte Rechenaufgabe, die der nebenstehende Witz erzählt, kann eben in der Realität nicht vorkommen.

„Ja, aber mein Konto gerät ab und zu in die Miesen! Um das darzustellen, braucht man doch negative Zahlen?!“

Nicht unbedingt. Das Bankgewerbe hat eine ehrwürdige Tradition; die reicht zurück in die Zeit, als negative Zahlen noch nicht allgemein akzeptiert waren. Damals entwickelten die Banker Verfahren, um Guthaben wie Schulden abzurechnen, ohne an negative Zahlen überhaupt zu denken. Gewisse Reste dieser Tradition haben sich bis in die jüngste Zeit erhalten. In den Kontoauszügen meines ersten Girokontos waren die Beträge zweispaltig gedruckt: eine Spalte für die Zu- und eine für die Abflüsse. Und da, wo es sich nicht vermeiden ließ, stand ein S wie Soll für die negativen und ein H wie Haben für die positiven Beträge. Irgendwann muss die Bank auf die allgemein gebräuchlichen Plus- und Minuszeichen umgestellt haben – mir ist es nicht besonders aufgefallen, es war ja ein Übergang zur Normalität.

Aber wenn man Bewegungen in der Ebene oder im Raum mit Koordinaten darstellen will, dann bleibt es nicht aus, dass man nach links vom Nullpunkt gerät oder unter die x-Achse. Da drängen sich doch negative Zahlen für die Koordinaten geradezu auf, oder? Ja, wenn man schon die negativen Zahlen hat. Die mittelalterlichen Seefahrer haben sich um ihre Verwendung ebenso gedrückt wie die Banker, und auch ihr Metier ist sehr traditionsbewusst. Deswegen sprechen wir noch heute von westlichen Längen und südlichen Breiten, obgleich diese Ortsangaben auf dem Globus wesentlich eleganter mit einem Minuszeichen auszudrücken sind.

Fazit: Man kann den negativen Zahlen eine ganze Weile aus dem Weg gehen; aber es wird zunehmend mühsam und auch albern. Natürlich kann man eine Sinuskurve im Koordinatensystem so weit lupfen, dass sie stets im Positiven hin- und herschwingt. Aber wesentlich schöner sieht sie aus, wenn, wie in der üblichen Darstellung, die x-Achse ihre Symmetrieachse ist. Und man kann das Koordinatensystem nicht immer so zurechtrücken, dass sich alles im Positiven abspielt.

Vollends unübersichtlich wird es, wenn es so etwas wie eine quadratische Gleichung zu lösen gilt. Wir lernen dafür eine einzige Formel; unsere Altvorderen, die darauf bestanden, dass auf beiden Seiten der Gleichung etwas Positives (oder allenfalls null) steht, mussten mit vier Formeln leben – von denen wir Heutigen sehen, dass sie alle eigentlich dasselbe sagen.

Mehr noch: Die Lösungen der Gleichungen, die uns in der Schule begegnen, sind eigentlich stets Nullstellen einer Funktion. Damit die Gleichung überhaupt eine Lösung hat, muss die zugehörige Funktion also irgendwo ins Negative abtauchen. Auch hier könnte man sich theoretisch um jeden Gedanken an negative Zahlen drücken, allerdings mit gewaltigem Denkaufwand, der einem auf der anderen Seite nichts einbringt.

Nachdem wir uns einmal – nicht ohne Mühe – an die negativen Zahlen gewöhnt haben, wollen wir sie nicht mehr missen. Denn sie lassen viele Dinge, die zunächst sehr verschieden aussehen, in einem einheitlichen Licht erscheinen und erleichtern uns dadurch erheblich das Leben. In diesem Sinne sind sie ebenso natürlich wie die natürlichen Zahlen – na ja, fast.

Weiter geht es in der Hierarchie der zunehmend unzugänglichen Zahlen. Dass es Zahlen geben soll, die sich nicht als Verhältnis zweier natürlicher Zahlen – sprich als Brüche – ausdrücken lassen, war in früheren Zeiten ebenfalls sehr gewöhnungsbedürftig. Aber um die irrationalen Zahlen kann man sich noch weniger drücken als um die negativen. Schon die alten Griechen mussten feststellen, dass das Verhältnis von Diagonale zu Seite eines Quadrats nicht rational ist. Und heute ist vollkommen klar, dass ohne diese sehr sperrigen Zeitgenossen im Zahlenreich wesentlich schwieriger zu leben ist als mit ihnen, selbst wenn man in Betracht zieht, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen unsäglich ist.

Noch unnatürlicher: die komplexen Zahlen

Und damit ist das Spiel noch nicht zu Ende. Da gibt es doch diese merkwürdige Wurzel aus –1. Eine reelle Zahl kann es nicht sein, denn das Quadrat jeder reellen Zahl ist größer oder gleich null. Also, sagten die Mathematiker der Renaissance, existiert sie nicht in der Realität, sondern nur in unserer Vorstellung, und nannten sie dementsprechend „die imaginäre Einheit“ oder kurz „i “. So heißt sie noch heute. Nur konnte schon der Universalgelehrte Girolamo Cardano (1501–1576) sie bei der Lösung eines ganz reellen Problems verwenden: einer kubischen Gleichung, also einer, bei der die Unbekannte in der dritten Potenz auftritt. (Höhere Potenzen der Unbekannten dürfen nicht vorkommen, niedere schon.) Irgendwo im Verlauf einer ziemlich komplizierten algebraischen Umformung gab es eine Wurzel aus einer negativen Zahl zu ziehen. Dadurch geriet das mysteriöse i in das Formelgestrüpp – und verschwand auf ebenso wundersame Weise wieder, so dass am Ende drei reelle Lösungen standen, wie sich das gehört.

Damit hatten die komplexen Zahlen – definiert als Summen aus einer reellen Zahl und einem reellen Vielfachen der imaginären Einheit i – zumindest Herrn Cardano in einem ziemlich speziellen Fall das Leben erleichtert. Das allein war noch nicht besonders bemerkenswert; aber im Lauf der Zeit kamen immer mehr solcher segensreichen Wirkungen hinzu. Die Mathematiker vergewisserten sich, dass man mit den neuen Zahlen so rechnen kann wie gewohnt, wenn man nur stets die Regel i 2= –1 anwendet, und vor allem damit nicht in irgendwelche Widersprüche gerät.

Zu Zeiten des großen Carl Friedrich Gauß (1777–1855) waren die komplexen Zahlen den Mathematikern schon einigermaßen geläufig. Aber Gauß verschaffte ihnen mit einem entscheidenden Schub ihren heutigen, sehr zentralen Platz im Theoriegebäude: Er etablierte eine geometrische Darstellung für die komplexen Zahlen. Die heißt heute die gaußsche Zahlenebene.

Die reellen Zahlen liegen auf der altbekannten Zahlengeraden. Die Vielfachen der imaginären Einheit i liegen auf einer Geraden, die senkrecht auf der reellen Zahlengeraden steht und sie im Nullpunkt schneidet. Oder in gewöhnlichen (kartesischen) Koordinaten ausgedrückt: Die komplexe Zahl x+iy sitzt auf dem Punkt (x, y) in der Ebene. Damit gibt es eine geometrische Veranschaulichung für die Addition komplexer Zahlen (es ist die gewöhnliche Vektoraddition) und deren Multiplikation (ein bisschen komplizierter).

Es stellt sich heraus, dass man die Exponentialfunktion auch für komplexe Werte definieren kann und dass sie damit sogar geeignet ist, Kreisbewegungen und Schwingungen wiederzugeben. Auf einmal lassen sich elektrische Schaltungen elegant beschreiben, indem man Spulen und Kondensatoren komplexwertige Widerstände zuschreibt. Und die ganze Quantenmechanik könnte ohne die komplexen Zahlen nicht leben: Die berüchtigte Wellenfunktion, aus der man die Wahrscheinlichkeit berechnet, an einem bestimmten Ort wie zum Beispiel ein Elektron anzutreffen, hat komplexe Werte. Nur so kann man diese absolut der Intuition widersprechende mikroskopische Welt überhaupt beschreiben.

Der Fundamentalsatz der Algebra, nach dem jedes Polynom n-ten Grades genau n Nullstellen hat; die riemannsche Vermutung mit dieser merkwürdigen Zetafunktion, deren Nullstellen in der komplexen Ebene uns etwas über die Verteilung der Primzahlen zu erzählen versprechen, und noch vieles mehr: Es gibt genug innermathematische Gründe, die komplexen Zahlen nicht missen zu wollen. Sie erleichtern uns das Leben, und sie lassen uns viele Dinge klarer sehen, die ansonsten dunkel bleiben würden.

Sind die komplexen Zahlen also in diesem erweiterten Sinne „natürlich“? Irgendwie schon.

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