Komplexe Analysis und der harmonische Oszillator

Christoph Pöppe

Wozu kann man komplexe Funktionen gebrauchen? Und insbesondere die spezielle Sorte komplexer Funktionen, die ich Ihnen im vorletzten Beitrag vorgestellt habe, die holomorphen?

Auf diese Frage, die in den Kommentaren dieses Beitrags intensiv gestellt wurde, gibt es viele Antworten. Die komplexe Analysis (so wird die Theorie der holomorphen Funktionen auch gerne genannt) sitzt so zentral im Beziehungsnetz der Mathematik, dass man ihre Wirkungen an zahlreichen Stellen wiederfindet. Da die ganze Fülle hier schwerlich auszubreiten ist, soll es stattdessen ein kleines Einzelbeispiel geben. Das Schöne an diesem Beispiel ist: Man kommt von einem physikalischen Problem bis zu dessen vollständiger Lösung – für Physiker wie Mathematiker ein eher seltenes Vergnügen.

Das physikalische System, um das es gehen soll, ist unter dem Namen „harmonischer Oszillator“ bekannt. Im Physikunterricht pflegt der Lehrer / die Lehrerin eine Schraubenfeder an einem Haken aufzuhängen, unten dran kommt ein Gewichtsstück („Massenstück“ ist die korrekte Bezeichnung), und dann lässt man das Ding zappeln.

Zur Beschreibung dieser Bewegung genügen fürs erste zwei einfache physikalische Gesetze: Kraft ist Masse mal Beschleunigung (Newton II), und die Rückstellkraft der Feder ist proportional ihrer Auslenkung (hookesches Gesetz). Eigentlich gibt es auch noch die Schwerkraft; aber die können wir uns merkwürdigerweise wegdenken. Im Ruhezustand zieht die Schwerkraft, die an der Masse angreift, die Feder ein Stück auseinander, bis deren Rückstellkraft das Gewicht gerade kompensiert. Wir legen unsere Längenskala so, dass an genau dieser Stelle der Nullpunkt sitzt, und legen den Nullpunkt der Kraftskala auf diese kompensierende Federkraft. Und wie in der Physik üblich, denken wir uns die Masse in einem einzigen Punkt konzentriert. Dann nimmt die Bewegungsgleichung für diesen Massenpunkt eine besonders einfache Form an:

Nennen wir \(u(t)\) die zeitabhängige Auslenkung aus der Ruhelage – positive \(u\) nach oben gerechnet –, dann ist die Kraft einerseits gleich \(m u’’(t)\); \(m\) ist die Masse, die Beschleunigung \(u’’(t)\) ist die zeitliche Ableitung der Geschwindigkeit \(u’(t)\), und das ist die zeitliche Ableitung der zeitlichen Ableitung des Ortes \(u(t)\). Andererseits ist die Kraft, die von der Feder ausgeübt wird, gleich \(-k u(t)\). Dabei ist \(k\) (die „Federkonstante“) ein Maß für die Härte der Feder, und das Minuszeichen muss sein, weil die Federkraft immer der Auslenkung entgegen gerichtet ist: abwärts, wenn die Masse zu hoch hängt, und umgekehrt. Damit ist unsere Gleichung \[m u’’(t) = -k u(t)\; ,\] und wir suchen eine Funktion \(u(t)\), die diese Differenzialgleichung erfüllt.


Ein kleiner Exkurs

Der folgende Witz stammt aus einer Zeit, als Konservendosen noch nicht mit einem Ring und einer vorgeritzten Linie zum Öffnen versehen waren, sondern ein spezielles Werkzeug erforderten: einen Dosenöffner. Die Pointe des Witzes hat dagegen den Zeitablauf unbeschadet überstanden.

Ein Experimentalphysiker, ein theoretischer Physiker und ein Mathematiker werden hungrig in je eine Gefängniszelle gesteckt, mit nichts als einer verschlossenen Dose Hering in Tomatensoße. Am Ende des Tages schaut der sadistische Wärter nach, was seine Gefangenen angestellt haben.

Die Zelle des Experimentalphysikers ist ziemlich verwüstet, und rote Soße tropft von den Wänden. Der Mann hat die Dose so oft gegen die Wand geknallt, bis sie schließlich ihren Inhalt freigab. Nun leckt er sich die Reste von den Fingern.

Der theoretische Physiker hat irgendwo einen Bleistiftstummel gefunden und die Wände der Zelle mit umfangreichen Flugbahnberechnungen bedeckt. Daraufhin kam er mit einem einzigen gezielten Wurf zum Ziel.

Der Mathematiker sitzt vor der geschlossenen Dose, ist aber durchaus glücklich damit und sagt nur „Angenommen, diese Dose wäre offen …“


An dieser Stelle verfahren wir wie der Mathematiker mit der Fischdose. Wir nehmen an, wir hätten eine Lösung, und werden glücklich damit.

Unser virtueller Dosenöffner ist in diesem Fall die Exponentialfunktion. Man schreibt sie \(f(x) = \exp(x)\) oder auch \(e^x\), denn in der Tat ist sie gleich der Zahl \(e=2{,}718281828\dots\), der Basis des natürlichen Logarithmus, hoch der Zahl \(x\). Wie man Potenzen mit irrationalen Exponenten definiert, ist eine Sache für sich, aber das braucht uns hier nicht zu interessieren. Worauf es hier ankommt, ist die Tatsache, dass die Exponentialfunktion gleich ihrer eigenen Ableitung ist: Für \(f(x) = \exp(x)\) gilt \(f’(x) = \exp(x)\). Und wenn noch irgendein konstanter Faktor vor dem \(x\) steht, nennen wir ihn \(a\), dann ist die Ableitung von \(\exp(ax)\) gleich \(a \exp(ax)\). Dahinter steckt kein weiterer Tiefsinn, sondern die Kettenregel der Differenzialrechnung. Und die zweite Ableitung ist entsprechend \(a^2 \exp(ax)\).

Na gut. Wir nehmen an, unser gesuchtes \(u(t)\) wäre gleich \(\exp(at)\).


Ein kleiner Moment der Verwirrung: Unsere unabhängige Variable heißt jetzt nicht mehr x, sondern t, weil es sich um die Zeit handelt. So sind die Bräuche: Wenn die unabhängige Variablde nicht x heißt, ist man verwirrt, und wenn die Zeit nicht t heißt, ist man auch verwirrt. Also muss ich Ihnen wohl oder übel die kleine Verwirrung, die durch die Umbenennung der Variablen entsteht, zumuten.


Setzen wir das in die Gleichung ein, dann ergibt sich \[m a^2 \exp(at) = -k \exp(at) \; .\] Das sieht doch schonmal ganz nett aus. Den Faktor \(\exp(at)\) können wir auf beiden Seiten der Gleichung wegdividieren (die Exponentialfunktion nimmt niemals den Wert null an), und übrig bleibt \[m a^2 = -k\] mit der einzigen Unbekannten \(a\). Das nach \(a\) aufgelöst ergibt \[a=\pm \sqrt{-{k \over m}} \; .\] Das sieht schlecht aus. Massen sind positiv, Federkonstanten sind positiv, verrechnet haben wir uns auch nicht, also hilft nichts: \(a\) ist die Wurzel aus einer negativen Zahl, und schon stecken wir mit \(a = \pm i \sqrt{k/m}\) in den komplexen Zahlen. (Wie war das? \(i\) war die imaginäre Einheit, von der man zunächst nur weiß, dass \(i^2=-1\) ist. Daraus kann man komplexe Zahlen machen, mit Rechenregeln und einer Darstellung in der gaußschen Zahlenebene. Einzelheiten hier.) Die beiden Lösungen unserer Gleichung wären \(u = \exp(\pm i\sqrt{k/m} \; t)\), und die sind definitiv nicht reell, sollen aber eine reelle Auslenkung \(u\) beschreiben. Die Schraubenfeder mit der Masse dran driftet ja offensichtlich nicht ins Reich des Imaginären ab.

An dieser Stelle sind wir in derselben Lage wie der gute Herr Gerolamo Cardano (1501–1576). Der hatte eine Lösungsformel für kubische Gleichungen gefunden, also solche, in denen die Unbekannte in der dritten Potenz vorkommt. Bei deren Anwendung tauchten unterwegs auch diese merkwürdigen imaginären Größen auf – und verschwanden wieder, mit dem Effekt, dass am Ende reelle Zahlen als Lösungen herauskamen.

Das Vergnügen werden wir auch haben. Allerdings müssen wir dafür eine weitere Tatsache zu Hilfe nehmen. Unsere Differenzialgleichung ist linear, das heißt, die Summe zweier Lösungen ist wieder eine Lösung, und wir dürfen jeden der Summanden noch mit einem konstanten Faktor multiplizieren. Wieso? Die zweite Ableitung einer Summe von Funktionen ist die Summe der zweiten Ableitungen, und der Rest ist einfaches Ausrechnen.

Zwei Lösungen haben wir schon, also ist \[ u(t) = b_1 \exp(i\sqrt{k/m}\; t) + b_2 \exp(-i\sqrt{k/m} \;t) = b_1 \exp(i c t) + b_2 \exp(-i c t) \] auch eine Lösung. Diesem nervigen Wurzelausdruck \(\sqrt{k/m}\) habe ich den neuen Namen \(c\) gegeben, damit es übersichtlicher aussieht. Und über die beiden Konstanten \(b_1\) und \(b_2\) können wir noch verfügen.

Die kommen uns auch gerade zurecht. Denn im konkreten Fall will man zum Beispiel wissen, was passiert, wenn man die Masse nach unten zieht, dabei die Feder anspannt, und dann loslässt. Oder wenn man ihr beim Loslassen noch einen Schubs mitgibt. Oder allgemein ausgedrückt: Wir wollen die Lösung des „Anfangswertproblems“ bestimmen, das ist die obige Differenzialgleichung mit der Zusatzbedingung, dass zum Zeitpunkt 0 die Position und die Geschwindigkeit des Massenpunkts vorgeschriebene Werte \(u_0\) beziehungsweise \(v_0\) annehmen: \(u(0)=u_0\), \(u’(0)=v_0\).

Na gut, setzen wir das in unsere allgemeine Lösung ein: \[u(0) = u_0 = b_1 + b_2 \; ,\] denn \(\exp(0) = 1\). Für \(v_0\) müssen wir die allgemeine Lösung zunächst ableiten: \[u’(t) = b_1 i c \exp(ic t) – b_2 ic \exp(i c t) \] und dann einsetzen: \[u’(0) = v_0 = ic (b_1 – b_2)\] Das sind zwei lineare Gleichungen für die beiden Unbekannten \(b_1\) und \(b_2\), was man mit Schulmitteln lösen kann. Das Ergebnis ist nicht schwierig, aber ein bisschen unübersichtlich. Schauen wir uns lieber den Spezialfall „auslenken und loslassen“ an, also \(v_0 = 0\). Dann folgt aus der zweiten Gleichung \(b_1 = b_2\) und aus der ersten \(b_1 + b_2 = u_0\), also \(b_1 = b_2 = u_0/2\). Also sieht unsere Lösung so aus: \[u(t) = u_0 {\exp(ic t) + \exp(-ic t) \over 2}\] Und jetzt kommt uns eine Formel aus der komplexen Analysis zu Hilfe und verschafft uns das Cardano-Erlebnis: \( (\exp(iz)+\exp(-iz))/2 = \cos z \). Damit finden wir das Endergebnis \[u(t) = u_0 \cos(ct)\; ,\] die imaginären Größen haben sich hinweggehoben, und alles geht mit reellen Dingen zu!

Das ist ja alles ganz nett; aber kann das sein, dass wir mit Kanonen auf Spatzen geschossen haben? Am Ende kam, vielleicht etwas überraschend, die Kosinusfunktion heraus. Aber wirklich neu ist das nicht. Dass die Masse an der Feder periodisch schwingt, hatten die Physiker schon vorher gemerkt. Dass Sinus und Kosinus geeignete Funktionen zur Beschreibung periodischer Bewegungen sind, hatte sich auch schon herumgesprochen. Und wenn man eine Funktion sucht, deren zweite Ableitung gleich dem Negativen ihrer selbst ist, ist es nicht so schwer, sie zu finden: Sinus und Kosinus erfüllen diese Bedingung. Man kommt, wenn man sich ausreichend Mühe gibt, auf die Lösung, ohne an komplexe Zahlen oder holomorphe Funktionen überhaupt zu denken.

Stattdessen habe ich die Exponentialfunktion, die Sie vielleicht noch kennen, aber eben nur für reelle Zahlen, stillschweigend auf komplexe Werte angewandt und dann noch diese merkwürdige Beziehung zwischen ihr und den Winkelfunktionen Sinus und Kosinus, die man üblicherweise als \(e^{ix} = \cos x + i \sin x \) liest, aus dem Hut gezaubert, nicht zu vergessen die Rechenregeln für komplexe Zahlen und die ganze zugehörige Theorie. Insgesamt ist das ziemlich viel Aufwand.

Aber es lohnt! Ja, man kommt auch im Dunkeln die Kellertreppe heile hinunter und wieder herauf, wenn man sich auskennt und vorsichtig ist. Aber warum nicht einfach das Licht anmachen? Ja, eine Leitung zu legen und eine Lampe zu montieren ist mühsam. Aber wenn man sie einmal hat, entschädigt einen die totale Erleuchtung für alle Mühen.

Wir haben uns ja bisher nur um den einfachsten Spezialfall gekümmert. Aber mit Erleuchtung erledigt man den allgemeinen Fall gleich mit. Die Feder nicht auslenken, sondern nur aus der Ruhelage anschubsen? Die Rechnung geht genau so, bloß dass am Ende die Sinusfunktion herauskommt. Und beide Spezialfälle kann man zum allgemeinen Fall zusammenmischen – die Differenzialgleichung ist ja linear.

Um die Kraft, die in der Realität auf die Dauer die dominierende Rolle spielt, indem sie den Oszillator über kurz oder lang zum Stillstand bringt, habe ich bisher sorgfältig herumgeredet: die Reibung. Die theoretischen Physiker mögen sie nicht so richtig, weil sie nicht durch eine einfache Formel beschreibbar ist wie „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“, sondern sich aus vielen kleinen Molekülinteraktionen zusammensetzt, über die man wenig Allgemeines sagen kann. Die übliche Annahme lautet: Die Reibungskraft ist der Bewegung entgegengesetzt und proportional der Geschwindigkeit, also gleich \(-r u’\), und \(r\) ist ein Proportionalitätsfaktor, der die Stärke der Reibung beschreibt. Das stimmt wenigstens ungefähr.

Damit sieht unsere Differenzialgleichung jetzt so aus: \[m u’’(t) = -k u(t) – r u’(t)\] Das ist immer noch eine lineare Differenzialgleichung mit konstanten Koeffizienten; so ist die Schublade beschriftet, in die die Fachleute diesen Gleichungstyp einsortieren. Auf alle Gleichungen aus dieser Schublade kann man den Ansatz mit der Exponentialfunktion anwenden. Für den unbekannten Faktor \(a\) ergibt sich in dem Fall mit Reibung eine quadratische Gleichung. Da findet endlich mal die gefürchtete Mitternachtsformel aus dem Schulunterricht eine sinnvolle Anwendung, und am Ende steht wieder eine Mischung aus Sinus- und Kosinusfunktionen, aber diesmal gedämpft mit einem Faktor der Form \(e^{-\lambda t}\).

Damit hat das Fischdosenverfahren („Angenommen, die Lösung wäre eine Exponentialfunktion …“) seine Möglichkeiten noch längst nicht erschöpft. Lineare Differenzialgleichungen mit konstanten Koeffizienten gibt es reichlich, und was nicht passt, wird passend gemacht – wenn es geht. Die Physiker sind ganz groß darin, Dinge, die eigentlich nicht linear sind, für linear anzusehen, und solange es sich um kleine Abweichungen von einem Referenzzustand handelt, stimmt das sogar so ungefähr. Das Verfahren ist in der Tat ein Hammer – da kommt man schon mal auf die Idee, überall Nägel zu sehen oder dies oder jenes zum Nagel zurechtzubiegen.

Dass eine einzige Funktion in der Lage ist, sowohl Schwingungs- als auch Dämpfungsvorgänge zu beschreiben (und das exponentielle Wachstum obendrein): Zu dieser Erkenntnis kommt man erst, wenn man das Licht im Keller anmacht. Das allein rechtfertigt schon die Mühe, sich mit den komplexen Zahlen und komplex-analytischen Funktionen zu beschäftigen. Ganz zu schweigen von der Eigenschaft, die diesen Funktionen das Etikett „komplex-analytisch“ eingebracht hat: dass sie alle durch eine unendliche Potenzreihe darstellbar sind. Aber davon erzähle ich ein andermal.

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