Der alte Mann und der Weg zum Weltfrieden

Christoph Pöppe

Martin Hellman ist gemeinsam mit Whitfield Diffie mit dem Turing Award von 2015 für die bahnbrechende Entdeckung der Kryptographie mit veröffentlichtem Schlüssel („public-key cryptography“) geehrt worden – für ihn selbst nur die letzte und höchstrangige in einer ganzen Liste von Auszeichungen. Damit gehört er zu der illustren Liste der Preisträger in Mathematik und Informatik, die alljährlich zum Heidelberg Laureate Forum (HLF) eingeladen werden, um dort mit der jungen Forschergeneration in den Dialog zu treten. So war der Weg für mich nicht weit, auf dem HLF 2018 ein Interview mit ihm zu führen – aus Anlass eines 40-jährigen Jubiläums. Hellman hatte nämlich 1979 die Grundzüge seiner Entdeckung im „Scientific American“ und in der Folge in dessen deutscher Ausgabe „Spektrum der Wissenschaft“ erläutert, die soeben auch ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hatte. („Spektrum“ ist in Heidelberg ansässig, und ich gehörte zu dessen Redaktion.)

Martin Hellman (ACM A.M. Turing Award – 2015), im Interview mit dem Autor (links), 2018. Foto: HLFF / Kreutzer

Als ich den Interviewtext meinem Chef vorlegte, sagte er mit deutlich erkennbarem Stirnrunzeln: „Das ist ja Lindenstraße!“ und meinte damit offensichtlich, dass da große, weltbewegende Probleme in das kuschelige Umfeld einiger weniger Privatpersonen transportiert und damit verniedlicht würden, so wie das die Sonntagabend-Kultserie des ARD-Fernsehens (1985–2010) angeblich getan hat. Na ja – es sah auf den ersten Blick tatsächlich so aus. Punkt 1, Verlagerung ins Privatleben, trifft definitiv zu. Hellman versichert nicht nur in diesem Interview, sondern auch in einem eigens dafür (gemeinsam mit seiner Ehefrau) verfassten Buch (über diesen Link kostenfrei zugänglich), dass er zunächst lernen musste, seine Eheprobleme zu bewältigen. Erst mit den dabei entwickelten Mitteln sei es ihm gelungen, Konflikte beizulegen, die alles andere als privater Natur waren. Und niedlich schon gar nicht; Punkt 2 trifft definitiv nicht zu. Vielmehr brachte ihn seine eigene Erfindung in gefährliches Fahrwasser.

Die Kryptographie mit veröffentlichtem Schlüssel bietet neue Möglichkeiten, geheime Nachrichten über abhörbare Kanäle zu schicken, ohne dass ein Lauscher sie entschlüsseln kann. Mehr noch: Es ist nutzlos, beim Absender den Schlüssel zu entwenden, das heißt jene Zeichenkette, mit deren Hilfe der Absender aus dem Klartext den zu versendenden Geheimtext macht. Diesen „Schlüssel zum Zuschließen“ hat nämlich der Empfänger der Nachricht ohnehin veröffentlicht; heute würde er ihn einfach auf seine Website stellen. Nur den zugehörigen „Schlüssel zum Aufschließen“ muss er sorgfältig geheimhalten. Wenn also die professionellen Abhörer von der National Security Agency (NSA) keinen Zugriff auf den Empfänger haben, zum Beispiel weil der in Moskau sitzt, verstopft ihnen das Verfahren von Diffie und Hellman effektiv die Lauscherohren.

In den Augen einiger Leute macht das die public-key cryptography zur Kriegswaffe, deren Veröffentlichung in einer internationalen wissenschaftlichen Zeitschrift gilt als Export, und auf den ungenehmigten Export von Kriegswaffen stehen hohe Strafen. Hellman wurde – nicht offen, aber gleichwohl unmissverständlich – mit Gefängnis bedroht, hielt stand, veröffentlichte sein Verfahren, und zur allgemeinen Überraschung suchte wenig später der Chef der NSA, Admiral Bobby Inman, ihn zu einem Gespräch auf. In der Folge bauten die beiden nicht nur Vertrauen zueinander auf, sondern wurden später sogar Freunde.

Ironie der Geschichte: Heute würde Bobby Inman die Kryptographie mit veröffentlichtem Schlüssel selbst dann nicht unterdrücken, wenn er es könnte. Eine Variante des Verfahrens eignet sich nämlich dafür, eine Nachricht unverfälschbar zu machen, was wiederum der Vertrauensbildung aufhilft.

Hellmans Mittel zur Konfliktbewältigung sind übrigens nicht sonderlich originell: Versetze dich in die Lage deines Gegners, mach dir klar, aus welchen Gründen der Misstrauen, Groll oder Furcht gegen dich hegen könnte, und bemühe dich, diese Gründe auszuräumen. Darauf hätten die fiktiven Bewohner der „Lindenstraße“ auch kommen können.

Nur hat sich diese einfache Einsicht bei den bedeutenden Regierungschefs nicht durchgesetzt. Unter den Präsidenten von Hellmans Heimatland USA ist Trump da nur das krasseste Beispiel. In einer Gesprächsrunde auf dem diesjährigen 12. Heidelberg Laureate Forum führt Hellman aus: „1945 konnte uns keine Macht der Welt etwas anhaben. Heute haben mehrere Akteure die Möglichkeit, uns binnen einer Stunde zu vernichten. Und warum hat sich zum Beispiel Nordkorea Atombomben zugelegt? Erstens weil Präsident Bush 2002 das ,1994 Agreed Framework’, das Nordkorea den Zugriff auf seine Plutoniumvorräte verwehrte, gekündigt hatte (und die ersatzweise zugesagten, nicht plutoniumfähigen Kernreaktoren nie geliefert wurden), woraufhin Nordkorea die Plutoniumproduktion wieder aufnahm; zweitens aber, weil Kim Jong-Un nicht dasselbe Schicksal erleiden wollte wie Gaddafi und Saddam Hussein, mit denen wir gar nicht erst versucht haben, zu einer Einigung zu kommen, sondern nur unsere Übermacht ausgespielt haben.“

Martin Hellman beim 12. Heidelberg Laureate Forum. Foto: HLFF / Kreutzer

In diesem Zusammenhang kommt Hellman auch auf die atomare Bedrohung zu sprechen, ein Thema, das seit dem Ende der Sowjetunion weitgehend aus der öffentlichen Diskussion verschwunden ist. Zu Unrecht, sagt Hellman. Kaum einem Zeitgenossen ist klar, dass der Präsident der Vereinigten Staaten nur den Befehl „Nuke’em“ aussprechen muss (was ihm auch im betrunkenen Zustand noch ohne weiteres über die Lippen gehen würde), und die atomare Katastrophe würde losbrechen. Es sei denn, ein Glied in der Befehlskette handelt den eindeutigen Vorschriften zuwider.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, sei es mit Vorsatz, aus Versehen oder aus irgendeinem Grund dazwischen? Gegeben die Tatsache, dass in den letzten 80 Jahren keiner stattgefunden hat? Hier prallen die verschiedenen Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs aufeinander. Die frequentistische versteht Wahrscheinlichkeit als Grenzwert der relativen Häufigkeiten und lässt deshalb nur Ereignisse gelten, die tatsächlich stattgefunden haben, was in diesem Fall offensichtlich in die Irre führt. Die Bayes’sche Interpretation dagegen geht von einer a-priori-Wahrscheinlichkeit im Kopf des Beobachters aus, die durch neue Erfahrungen revidiert wird. Wenn man unter Letztere auch Fast-Katastrophen zählt, kommt man der Sache schon näher. Da gab es nicht nur die allgemein bekannte Kuba-Krise von 1962, sondern auch etliche andere Ereignisse, von denen die Öffentlichkeit nicht viel erfahren hat. Hellman geht so weit zu behaupten, die russische Regierung hätte für den Fall, dass sie beim Angriff auf die Ukraine eine totale Niederlage erlitten hätte, die nukleare Option in Erwägung gezogen.

Auch mit Insiderkenntnissen, über die der nach wie vor gut vernetzte Hellman zweifellos verfügt, ist die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs nur sehr ungefähr abzuschätzen. Hellman kommt auf eine Größenordnung von einem Prozent – pro Jahr, wohlgemerkt. Zehn Prozent ist definitiv zu hoch gegriffen: Dann wäre die große Katastrophe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit inzwischen eingetreten. Dagegen ist 0,1 Prozent angesichts der nicht wenigen Fast-Katastrophen viel zu niedrig geschätzt. Na ja – selbst wenn man Hellmans Größenordnungs-Schätzung optimistisch interpretiert, sagen wir 0,5 Prozent pro Jahr, dann hätten wir im Durchschnitt alle 200 Jahre mit einem Atomkrieg zu rechnen. Nicht wirklich beruhigend.

Martin Hellman ist am 2. Oktober dieses Jahres 80 Jahre alt geworden und geht am Stock – was ihn nicht hindert, weiterhin politisch aktiv zu sein. So ist er federführender Verfasser der Denkschrift „Rethinking National Security“, welche die oben skizzierten Gedanken zur atomaren Bedrohung detailliert ausführt. (Eine Zusammenfassung in wenigen Sätzen und weitere Webhinweise finden Sie hier.) Unter den Mitunterzeichnern finden sich etliche Nobelpreisträger sowie ehemals hochrangige politische Figuren – und insbesondere Hellmans ehemaliger Widersacher und späterer Freund Bobby Inman.

Gegenwärtig arbeitet er an einer Gesetzvorlage mit dem Ziel, das Problem mit dem betrunkenen Oberbefehlshaber zumindest etwas abzumildern. Die letzte Version des Entwurfs sei so verwässert, dass sie immerhin eine Chance habe, im Kongress diskutiert zu werden, bemerkt Hellman mit süßsaurer Miene. Mehr könne man unter den gegenwärtigen Verhältnissen ohnehin nicht erwarten.

Es sieht ganz so aus, als hätten die großen Entscheidungsträger noch viel von Hellmans Lindenstraßen-Wahrheiten zu lernen.

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