Die wilde Dynamik des Pierre Berger

Christoph Pöppe

Der Mathematiker Pierre Berger, der an der Sorbonne in Paris arbeitet, lässt uns in einer Ausstellung an seinen neuesten Ergebnissen zu kontinuierlichen dynamischen Systemen teilhaben. Diese ist Teil der MAINS on Tour Ausstellung in Heidelberg (14. bis 19. September in Heidlberg), zeitgleich zum diesjährigen Heidelberg Laureate Forum.

Worum geht es? Fassen Sie sich bitte einen Moment in Geduld. Die Theorie der dynamischen Systeme (früher auch als „Chaostheorie“ bezeichnet) ist etwas gewöhnungsbedürftig.

Wer sich an meine früheren Beiträge zum Chaos (hier, da und dort) erinnert: Das war eine geringfügig andere Baustelle. Diesmal geht es nicht um hüpfende, sondern um gleichmäßig fließende Zeit. Ein späterer Zustand wird nicht dadurch bestimmt, dass eine Funktion auf den gegenwärtigen Zustand angewendet wird. Vielmehr besteht das „Naturgesetz“ aus Differentialgleichungen. Die sagen grob gesprochen nur an, wie der Zustand des Systems sich in einem „unendlich kleinen“ Zeitraum ändern wird. Daraus den Zustand zu einer endlichen späteren Zeit zu berechnen ist mühsam und häufig nur näherungsweise möglich. Da will man aus den Differentialgleichungen zumindest allgemeine Aussagen über das Verhalten des Systems herleiten können.

Solange der Systemzustand mit zwei oder drei reellen Zahlen beschreibbar ist, bietet sich eine geometrische Darstellung an. Die Menge aller überhaupt möglichen Systemzustände (der „Phasenraum“) ist ein Teil der Ebene bzw. des Raums. Das System selbst ist nichts weiter als ein einzelner Punkt, der sich durch den Phasenraum bewegt. An jedem Punkt des Phasenraums sitzt ein kleiner Pfeil, der dem beweglichen Punkt ansagt, wo es an dieser Stelle langgeht. Die Gesamtheit dieser Pfeile wird auch als „Vektorfeld“ bezeichnet.

Im Allgemeinen interessiert man sich nur für Vektorfelder mit „Wohlverhalten“. Man könnte die Pfeile irgendwie widersprüchlich setzen, etwa so, dass an einer Stelle ein Pfeil nach links weist und unmittelbar links davon einer nach rechts. Aber dann wüsste ein Punkt, der dorthin gerät, beim besten Willen nicht, was er machen soll, und die Differentialgleichung hätte ab da keine Lösung mehr, auch keine chaotische. Das ist ein eher uninteressanter Fall. Also fordert man, dass das Vektorfeld selbst „glatt“ ist, das heißt, sich von einem Punkt zum nächsten nur allmählich und nicht sprunghaft ändert.

Ein Punkt, den man an irgendeiner Stelle (dem „Anfangswert“) in dieser Primitivwelt aussetzt, folgt den Pfeilen und beschreibt dadurch eine Bahn (seine „Trajektorie“) – vollkommen deterministisch. Abgesehen von der Wahl des Anfangswerts gibt es keine Freiheiten in dieser Situation. Was passiert auf lange Sicht?

Zum Beispiel könnte an einem Punkt des Phasenraums ein Nullvektor sitzen. Ein Punkt, der dorthin gerät, würde dann auf alle Zeiten dort hängenbleiben. Vielleicht weisen die Pfeile in der Umgebung dieses „Fixpunkts“ alle auf diesen Punkt hin. Wenn dann der Systemzustand in die Nähe des Fixpunkts gerät, kommt er ihm immer näher und nie wieder weg, als würde der Fixpunkt eine Anziehungskraft ausüben. Das nennt man einen attraktiven Fixpunkt.

Oder alle Pfeile weisen vom Fixpunkt weg. Dann ist er abstoßend, und wenn der Systemzustand nicht am Beginn seines Lebens dorthin gesetzt wird (und dort alt wird), sieht er ihn nie – nicht einmal von weitem.

Oder der Fixpunkt ist in einer Richtung anziehend und in einer dazu senkrechten Richtung abstoßend. Dann wird die Bewegung dramatisch. Ein Punkt hält aus einer attraktiven Richtung kommend auf den Fixpunkt zu; aber wenn er nicht genau auf dem richtigen Weg ist, dann schlagen kurz vor dem Ziel die abstoßenden Kräfte zu und schleudern ihn weit nach draußen, mit ungewissem Schicksal.

Pierre Berger betreibt nicht nur seine Forschung, sondern ist auch bestrebt, ihre Ergebnisse in Form sicht- und greifbarer Objekte zu vermitteln. So hat er diese interessantesten aller Fixpunkte („homokline Punkte“) in einer Metallskulptur verewigt.

Metallskulptur die wilde dynamische Systeme darstellt.
Der obere Fixpunkt ist in zwei Richtungen (Blechebene) anziehend, in der dazu senkrechten Richtung abstoßend. Unter der gebogenen Stange darf man sich eine Trajektorie vorstellen, die vor Urzeiten aus dem Fixpunkt entkommen ist. Bei dem unteren Fixpunkt ist die Situation genau umgekehrt.

Es kann auch vorkommen, dass alle Trajektorien auf die Dauer nicht einem bestimmten Punkt zustreben, sondern einer Teilmenge, einem „Attraktor“. Aus dessen näherer Umgebung kommt ein Systemzustand zwar nie wieder heraus, kann aber gleichwohl die unglaublichsten Dinge anstellen. Eine gewisse Berühmtheit hat der Lorenz-Attraktor erlangt, den der Meteorologe Edward Lorenz fand, als er sein brutal vereinfachtes Modell des Wetters näher untersuchte.

Metallskulptur
Diese Blechskulptur von Pierre Berger stellt den Attraktor eines dreidimensionalen dynamischen Systems dar. Von einer Anfangsphase abgesehen verlaufen alle Trajektorien in unmittelbarer Nähe dieser Teilmenge, und zwar in Richtung der (ins Blech eingravierten) Pfeile. Eine Trajektorie kann eine beliebige Anzahl von Runden auf einer der beiden Scheiben drehen, dann auf die andere Scheibe wechseln, und so weiter.

Der hier in Blech wiedergegebene Attraktor gehört zu einem speziellen dynamischen System. Ein Punkt kann unter dem Einfluss der Systemgleichungen wieder zu seinem Anfangswert zurückkehren (und muss dann immer wieder bis in alle Ewigkeit denselben Weg durchlaufen) – so weit noch nichts Besonderes. Aber jede dieser periodischen Bahnen kann sich beliebig oft um sich selbst schlingen und damit das realisieren, was die Mathematiker einen Knoten nennen: eine in sich geschlossene Kurve im dreidimensionalen Raum. Die darf man sich als Bindfaden vorstellen, und für den Knotentheoretiker kommt es nicht darauf an, wie dieser Faden im Raum herumhängt, solange er nicht zerschnitten und hinterher wieder verschlossen wird. Dieses spezielle dynamische System, das Robert Ghrist sich ausgedacht hat, realisiert jeden überhaupt denkbaren Knoten durch eine periodische Trajektorie. Das heißt: Jeder Knoten ist gewissermaßen in dem System enthalten, und um ihn auszuwählen, muss man nur einen einzigen Punkt im dreidimensionalen Raum bestimmen: einen Anfangswert, der ein beliebiger Punkt auf der periodischen Bahn sein darf. Das ist echte Reichhaltigkeit!

Auf einem der beiden Bildschirme in der Ausstellung präsentiert uns Berger eines seiner Ergebnisse noch absolut backfrisch: Die zugehörige wissenschaftliche Arbeit hat er erst diesen Sommer auf den Preprintserver arxiv.org hochgeladen.

Es geht um Vektorfelder, die nicht nur glatt sind, sondern sich auch einer weiteren Eigenschaft erfreuen: Sie sind flächenerhaltend (in zwei Dimensionen) bzw. volumenerhaltend (in drei Dimensionen). Schauen Sie sich eine Teilmenge des Phasenraums an und beobachten Sie, wie sich diese unter dem Einfluss der Dynamik verformt. (Das heißt: Sie lassen auf jeden Punkt der Teilmenge die Systemgleichungen wirken. Dadurch ergibt sich eine deformierte Version dieser Teilmenge, im Allgemeinen umso deformierter, je mehr Zeit vergeht.) Die Teilmengen, die Berger zur Illustration verwendet, sind bunte Ellipsen. Eine flächenerhaltende Dynamik darf eine solche Ellipse verschieben, drehen, zusammendrücken, strecken, krummbiegen und etliches mehr, aber nur solange sie jedes Zusammendrücken durch ein entsprechendes Strecken kompensiert.

Gemessen an dem, was Dynamiken sonst mit den Punkten eines Systems anstellen können, sind die flächenerhaltenden als äußerst brav einzustufen. George Birkhoff, einer der Altmeister der Theorie dynamischer Systeme, ging 1941 sogar so weit, zu vermuten, es handele sich „im Wesentlichen“ um Rotationen.

Nehmen wir an, auf der ganzen Erde weht nichts als ein beständiger Westwind. (Natürlich muss an Nord- und Südpol Windstille herrschen. Diese Punkte sind also Fixpunkte, aber weder anziehend noch abstoßend.) Dann wird jedes Luftvolumen permanent ostwärts gedrückt, manche Teile schneller als andere – wir haben ja nicht gesagt, dass der Wind überall gleich schnell weht –, sodass unser Volumen zwar deformiert wird, aber insbesondere gleichbleibt. So etwas würde man immer noch eine verallgemeinerte Rotation (Fachausdruck: konjugiert zu einer Rotation) nennen. Denn man kann das Koordinatensystem der Erdoberfläche – zeitabhängig – so verändern, dass die Bewegung in dem veränderten Koordinatensystem wie eine Rotation aussieht. Das, so Birkhoff, sollte für jedes flächenerhaltende dynamische System auf der Kugeloberfläche gelten.

Pierre Berger hat Birkhoffs Vermutung widerlegt. Auch unter den braven Dynamiken gibt es wilde, die sich beim besten Willen nicht in das Schema mit der Rotation zwängen lassen. So ganz einfach kann er nicht gewesen sein, ein Gegenbeispiel zu finden; immerhin hat die Suche mehr als 80 Jahre in Anspruch genommen.

Auf dem Bildschirm können Sie die Aktion dieses speziellen dynamischen Systems beobachten und sogar erforschen, indem Sie einen der zahlreichen Knöpfe betätigen.

Mehrfarbige Darstellung eines wilden dynamischen Systems.
In dieser Momentaufnahme eines wilden dynamischen Systems auf der Kreisscheibe sind die ursprünglichen Ellipsen am Rand noch wiederzuerkennen, im Inneren jedoch bis zur Unkenntlichkeit verzerrt – unter Wahrung des Flächeninhalts.

Erwarten Sie keine rasche Erleuchtung! Berger selbst sagt: „Wenn ein Zehnjähriger sich das anschaut und von den psychedelischen Bildern fasziniert ist, dann ist das auch gut.“
Das gilt in noch höherem Maß für den linken der beiden Bildschirme. Der ist ein Forschungsmittel für Wissenschaftler. Auf Knopfdruck kann man sich gewisse interessante Eigenschaften eines dynamischen Systems darstellen lassen. Das sieht auch sehr psychedelisch aus. Aber es wäre schon hilfreich, vorher zu wissen, was – zum Beispiel – ein Ljapunow-Exponent ist.

Sie können diese Ausstellung und andere spannende Ausstellungstücke vom 14. bis 19. September 2025 im Senatssaal der Alten Universität in Heidelberg sehen. Mehr Informationen gibt es auf der MAINS Webseite.

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