Nachruf auf Peter D. Lax

Christoph Pöppe

Ein eher unscheinbarer Mann mit sehr lockigem, grauem Haarschopf tritt ohne ein Stück Papier an die Tafel und stellt ein mathematisches Problem vor. Dann kratzt er sich gedankenvoll an der Nase und lässt sein Publikum an den Ideen teilhaben, die ihm soeben zur Lösung des Problems einzufallen scheinen. Es ist nicht schwer, ihm zu folgen, während er, immer noch herumprobierend, eine Gleichung nach der anderen anschreibt. Eine Stunde später hat er seinen Zuhörenden unauffällig das Gefühl vermittelt, es ergebe sich doch eins ganz natürlich aus dem anderen. Nur ist auf die bahnbrechende Theorie, die er da präsentiert hat, außer ihm niemand gekommen.

So habe ich Peter D. Lax selbst erlebt – so genial, dass man gar nicht merkt, wie schwer Mathematik eigentlich ist. Was er damals in Heidelberg vortrug, ist den Fachleuten inzwischen unter der Bezeichnung „Lax pairs“ geläufig. Und die Gleichung für so ein Paar sieht auf den ersten Blick wirklich einfach aus: \[ {\partial L \over \partial t} = [M,L] \] Das merkwürdige d mit dem krummen Hals bezeichnet in der Tat nichts weiter als eine Ableitung, in diesem Fall nach der Zeit; aber in den unschuldigen Buchstaben M und L hat der große Meister die ganze Komplexität des Problems vor den Augen des Betrachters versteckt, der Klarheit der Darstellung zuliebe. Insbesondere steckt in dem L eine unbekannte Funktion namens u und in dem M eine Aussage über deren räumliche Ableitungen, mit der Folge, dass obige Gleichung eine (partielle) Differentialgleichung für u formuliert.

Peter D. Lax, Profilbild.
Mathematiker Peter D. Lax (1926-2025; Abel Prize, 2005). Foto: Peter Badge / HLFF

L und M sind lineare Operatoren; das sind gewissermaßen Maschinen, in die steckt man eine Funktion hinein, und heraus kommt wieder eine Funktion, die möglicherweise völlig anders aussieht. Und wenn man zwei solcher Maschinen hintereinander auf eine Funktion anwendet, kommt es auf die Reihenfolge an. Der Ausdruck [M, L] (der „Kommutator von M und L“) ist eine Kurzschreibweise für MLLM, und das ist eben im Allgemeinen nicht gleich Null.

Der Operator L spielt eine prominente Rolle in der Physik, und dort ist man es gewohnt, sich um dessen Eigenwerte zu kümmern; das sind reelle oder komplexe Zahlen, die man \(\lambda\) zu nennen pflegt, mit der Eigenschaft \(Lq=\lambda q\) für eine gewisse Funktion q, die dann Eigenfunktion heißt. Lax hat seine Gleichung nun so gebaut, dass die Eigenwerte des (zeitlich veränderlichen) Operators L in der Zeit unverändert bleiben. Und das sagt so viel über die ursprüngliche Differentialgleichung aus, dass sie die Grundlage für eine Lösungstheorie liefert.

Mit seinem Geniestreich hat Lax 1968 den Grundstein für ein Gebiet der angewandten Mathematik gelegt, das mittlerweile zu beachtlicher Größe herangewachsen ist: die Lösungstheorie der Soliton-Gleichungen. Diese Differentialgleichungen beschreiben Systeme, in denen merkwürdige Phänomene („Solitonen“) auftreten: lokalisierte Abweichungen vom Ruhezustand, die über die Zeit hinweg stabil sind und miteinander wechselwirken wie massive Teilchen. Das Gebiet ist inzwischen weit verzweigt; ich selbst habe zu einem dieser Zweige beigetragen und hier und da ausführlich darüber berichtet. Aber noch heute pflegt man in Zeitschriftenartikeln zum Thema die 1968er Arbeit des Altmeisters Lax zu zitieren.

Natürlich war für mich die Begegnung mit Lax – und eine frühere, bei der er mir kleinem Anfänger geduldig ein paar richtige Wege wies – von großer Bedeutung. Für ihn selbst war die ganze Soliton-Theorie nur ein Abstecher: Nach seinem grundlegenden Werk wandte er sich wieder anderen Themen zu und hat sich, soweit ich weiß, nie wieder mit Solitonen beschäftigt.

Die Fachwelt kennt ihn vielmehr als Pionier der Strömungsmechanik. Nachdem seine jüdische Familie 1941 aus ihrer Heimatstadt Budapest in die USA emigrieren musste, studierte der junge Einwanderer Mathematik und promovierte bei Richard Courant, dem prominentesten unter den Wissenschaftlern, die die Nazis bereits 1933 aus Göttingen verjagt hatten. Courant hatte an der New York University das nach ihm benannte Institut für Mathematik gegründet und unter maßgeblicher Beteiligung zahlreicher Emigranten aus Europa zu einer der weltweit bedeutendsten mathematischen Forschungsstätten gemacht. Lax avancierte rasch zu einer der führenden Persönlichkeiten des Instituts und blieb ihm bis zu seiner Emeritierung treu.

In seine frühen Jahre fiel der Aufstieg der Computer. In Zusammenarbeit mit seinen Institutskollegen entwickelte er Rechenschemata, welche die notorisch schwierige Simulation von Strömungsvorgängen korrekt bewältigen. Heute stehen diese Verfahren unter den Namen Lax-Wendroff und Lax-Friedrichs in den Lehrbüchern.

Für die klassische Differentialgleichung der Strömungsmechanik, die Navier-Stokes-Gleichung, gibt es bis heute keine befriedigende Lösungstheorie. Insbesondere kann es – zumindest theoretisch – passieren, dass eine Lösung der Gleichung im Verlauf der Zeit plötzlich ihre Differenzierbarkeit verliert. Das gilt in verstärktem Maß für die „kompromisslosere“ Schwester der Navier-Stokes-Gleichung, die Euler-Gleichung; denn ihr fehlt ein Term, der für den Ausgleich von Gegensätzen sorgt. Auf jeden Fall geht an einem solchen Zeitpunkt die Eindeutigkeit der Lösung verloren; rein mathematisch stehen dann viele verschiedene Zukünfte zur Auswahl, was natürlich nicht sein darf (und in der Natur auch nicht vorkommt).

Es gelang Lax, nach Vorarbeiten durch zahlreiche andere Forscher, diesem Problem abzuhelfen. Das aus der Thermodynamik stammende Konzept der Entropie – ein Maß für die „Unordnung“ eines Systems – hilft die Mehrdeutigkeit aufzuheben. Die physikalische Lösung ist diejenige, bei der die Entropie des Gesamtsystems maximal wird.

Im Jahr 2005 wurde ihm „für seine bahnbrechenden Beiträge zur Theorie und Anwendung von partiellen Differentialgleichungen sowie zu deren numerischer Lösung“ der Abelpreis verliehen. Es war erst der dritte in der Reihe der erst wenige Jahre zuvor gestifteten Abelpreise.

Nachdem Lax in seiner Jugend von der Weltpolitik gebeutelt worden war, kam sie ihm später noch einmal buchstäblich ins Haus. Als 1970 amerikanische Truppen im Verlauf des Vietnamkriegs in Kambodscha einmarschierten, nahm er selbst an einem der zahlreichen Protestzüge dagegen teil. Tags darauf legten Anarchisten, ebenfalls zu Protestzwecken, eine Bombe im Computerraum des Courant-Instituts ab und machten sich aus dem Staub. Wäre der Sprengsatz explodiert, hätte er nicht nur den Computer zerstört, sondern auch die großen Glaszwischenwände bersten lassen und so weitere schwere Schäden angerichtet. Es war Lax, der gemeinsam mit einigen Kollegen beherzt die noch brennende Lunte austrat.

Am 26. Mai 2025 ist Peter D. Lax im Alter von 99 Jahren gestorben.

Der Nachruf auf ihn in der New York Times (kostenpflichtig) betitelt ihn als „Mathematiker des Kalten Krieges“ und hebt seine Beteiligung am „Manhattan Project“ zum Bau der Atombombe als zentralen Ausgangspunkt seiner Karriere hervor. Das finde ich einigermaßen befremdlich. Ja, er hat 1945 und 1946 am Manhattan Project mitgearbeitet. Wer die Wirkung einer Bombenexplosion – atomar oder auch nicht – vorausberechnen will, muss sehr komplizierte Strömungsmechanik beherrschen. Zweifellos hat Lax, damals Anfang 20, an den damals noch neuen und sehr primitiven Computern die ersten Fingerübungen für sein späteres Hauptforschungsgebiet gemacht. Aber dass die Herstellung von Kriegsgerät eine wesentliche Rolle in seinem Leben gespielt hätte, halte ich für eine grobe Verzerrung.

In meinen Augen ist er – von seiner überragenden Genialität abgesehen – vor allem ein leuchtendes Beispiel für die Kultur des Courant-Instituts, mit seiner Bereitwilligkeit, sein Wissen mit anderen zu teilen, und dem fürsorglichen Interesse für die kleinen Nachwuchswissenschaftler – so wie ich selbst sie von anderen Mitgliedern des Instituts erfahren habe, namentlich Jürgen Moser, und von meinem Doktorvater Willi Jäger, der auch ein Jahr am Courant-Institut Gastwissenschaftler war.

The post Nachruf auf Peter D. Lax originally appeared on the HLFF SciLogs blog.